Das Stillwater Mädchen-College ist ein Universum für sich, „so autonom wie eine Militärbasis“. Es liegt außerhalb eines Städtchens gleichen Namens im ländlichsten Virginia an einem regungslosen See.
Nell Zink, „Virginia“, aus dem amerikanischen Englisch von Michael Kellner, Roman, Rowohlt, 318 Seiten, 22,-
„In mondlosen Nächten war es in Stillwater so dunkel wie im Inneren einer Kuh.“
Die Schranken der Rassentrennung sind in Stillwater Ende der Sechzigerjahre noch intakt. (Geografie ist Schicksal.) Es gibt einen Imbiss für Weiße und einen für Schwarze, doch für die abgeschirmten College-Absolventinnen kommt überhaupt kein Imbiss in Frage. Ihre Lebensentwürfe erscheinen summarisch als Kontrastprogramm zur Studentenrevolte. Sie streben Abschlüsse in Französisch und Kunstgeschichte zur Veredelung ihres Brautstatus an, oder so wie die Pastorentochter Peggy Vaillaincourt, in kreativem Schreiben. Peggy begreift ihre „Mädchenjahre (als) Irrtum“. Sie ist nicht über die Kindheitsgleichung „Mädchen zu mögen, bedeutet ein Mann zu sein“, zu einer differenzierten Betrachtung nicht-heteronormativer Geschlechterarrangements gelangt. Also glaubt sie, ein Mann sein zu wollen. Deshalb raucht sie Zigarillos und trägt einen Kurzhaarschnitt, der sie „bezaubernd“ aussehen lässt.
Die Differenz zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung einer sich maskulin fühlenden, jedoch feminin wirkenden Person ist Nell Zinks erster Erzählcoup in „Virginia“. Der zweite Coup besteht darin, diese selbstmissverständliche Auffächerung in der Perspektive des schwulen Dozenten und Dichters Lee Fleming umkippen zu lassen. Lee ist der Spross einer in Stillwater alles beherrschenden Familie.
„Der örtliche Hexenmeister des Ku-Klux-Klans arbeitete in der Sägemühle seines Vaters.“
Nach Einschätzung urbaner Freunde lebt Lee in einer „Zeitblase“. Er bewohnt ein Haus am See, das sich Jahrzehnte im Familienbesitz befand, ohne genutzt worden zu sein. Nun dient es einer Art Verbannung. Die Abgeschiedenheit verstärkt die Folgen des Weltverzichts, mit dem Lee dafür bezahlt, seiner Devianz zum Trotz nicht enterbt zu werden.
Der Diaspora-Blues endet mit Peggy im Kanu. Der Dozent und die Studierende beweisen zunächst „eine praktisch grenzenlose Ausdauer in sexuellen Dingen“. Peggy wird umgehend schwanger und relegiert. Lee begrüßt die Aussicht auf einen weiteren Fleming, verliert aber auch das Interesse an einer, die zu heiraten, er für unvermeidlich hält.
Lee findet Gefallen an der Vaterschaft. Er forciert Verhältnisse, die Peggy degradieren und sie zu einer frustrierten Ehefrau machen. Mutterschaft und Ehe verschaffen Peggy nur außerhalb ihrer häuslichen Verhältnisse Prestige als Professorengattin.
Zink wurde in Kalifornien geboren, wuchs in Virginia auf und lebt nun in Bad Belzig. BB ist, sagt Wikipedia, „die Kreisstadt des Landkreises Potsdam-Mittelmark im Land Brandenburg. Seit dem 5. Dezember 2009 darf Bad Belzig sich offiziell staatlich anerkanntes Thermal-Soleheilbad nennen.“ Zink sagte einmal, am Anfang ihrer Bürgerschaft in BB sei sie so etwas wie ein Kaugummi an den Sohlen der Eingesessenen gewesen. Als großen Vorzug der Stadt schätzt Zink den Bahnhof. Ihr gefällt ferner, dass sie da von Einflüssen unberührt bleibt. Sie spricht Deutsch und schreibt Englisch. Ihr Deutsch findet sie „kompetent“, aber nicht literaturfähig.
Lee hungert Peggy emotional aus. Er braucht sie nur als Kindermädchen seines Sohnes Byrdie und endlich auch der Tochter Mireille. Der Vorgang entspricht einer Delegation von sozialen Lasten in der Manier seit Generationen reicher Leute, die jedes Vergnügen grundsätzlich für sich reservieren.
Lee betrügt Peggy bei jeder Gelegenheit mit Frauen und Männern. Es ist eine Leistung des Romans, Lees Subversionen so darzustellen, dass ihre Verankerungen in der Realität gesichert sind. Peggy kontert nach den Spielregeln des „Theaters der Grausamkeit“.
Der Gedemütigten gelingt der Ausgleich nicht. Das Gefälle vergrößert sich zu Peggys Nachteil. Zinks Untersuchung der Spielräume lässt die Klassenfrage nicht außer Acht. Lees Eltern treten als stille Teilhaber*innen in einer Organisation zur Aufrechterhaltung der Ungerechtigkeit ein. Für sie zählt nur der Enkel als Garant einer dynastischen Zukunft.
Die Konfliktanlage ist ein Meisterwerk. Für die am Anfang leichtfertig verspielte Ebenbürtigkeit findet Peggy keinen Ersatz. Ihre Deklassierung nimmt Fahrt auf. Sie verlässt Lee. Sie flüchtet nicht allein vor Zumutungen. Peggy entzieht sich einem Milieu, in dem sie versagt hat.
Sie verschlechtert sich von einer Stunde auf die nächste ungemein. Auch die Tochter setzt sie den Folgen der Preisgabe des Bürgerlichen aus. Peggy verpasst der Restfamilie eine neue Identität. Fortan heißt Mireille Karen nach einer betrügerisch ergatterten Geburtsurkunde.
Spielarten des Verlierens
Das Dokument bildete den Schlusspunkt der irdischen Laufbahn einer mit sechs Jahren verstorbenen Schwarzen. Zu den Romanhöhepunkten zählt, wie die vierjährige Mireille flachsblond als PoC eingeschult wird und auf Anhieb eine Klasse überspringt. So sehr die Doppelvolte aus dem Rahmen der Zusammenfassung fällt, im Romanrahmen ergibt sich daraus nichts Unplausibles. Schwarzsein, so Zink, sei in Virginia eine Sache des Blutes und nicht der Hautfarbe. Ein schwarzer Vorfahre reiche aus, um bis zum jüngsten Gericht nicht weiß zu werden.
Peggy geht unter die Sammlerinnen. Zu ihren Funden zählt ein überfahrener Waschbär, der sechs Dollar in einem Anglerladen bringt. Einem Frührentner der First Nation verkauft Peggy berauschende Pilze.