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2022-08-19 06:37:13, Jamal

Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.   

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In den Achtzigerjahren vor dem Göttinger Institut für Leibeserziehung. Fotografiert von Mara Neusel. © Jamal Tuschick

Kraftloser Koloss

Georg Büchner erkannte Bedingungen, „die nur von Marionetten noch zu ertragen sind“. Nanami Mulligan behauptete, dass das klassische Theater durch und durch naturalistisch gewesen - und mit Heinrich von Kleist gar nicht zurande gekommen sei.

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Das Unbehagen am Theater seiner Zeit findet Heiner Müller bei Heinrich Kleist.

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„Man muss durch Schauspieler Texte jagen wie Stromstöße.“ „Wenn ich tot bin, wird mein Staub nach dir schreien“. Heiner Müller

Heinrich Leise, der Ben Wisch unseres Ministerpräsidenten Holger Börner, erzählte im Lichthof seiner maurischen Festung am Brasselsberg von Rotarmisten, die mit dem Ruf „Für Luise“ „ins Trommelfeuer der weißen Garden“ gestürmt waren. Heinrich baute das aus. Wie er einmal im Moskau gewesen und den führenden Germanisten da getroffen und wie der sofort von Schiller angefangen und von der Revolution und der immensen Bedeutung von „Kabale und Liebe“ für die sowjetisch-russischen Revolutionär:innen*. Und alle Birken rauschten zum Don Kosakenchor.

Heinrichs Frau, die katholische Hugenottin Margarete, griff Cole ab, als der Weltmeister vom Klo kam. Sie redete über ihre Krankheiten und andere Kalamitäten. Man konnte nicht mehr zwei normale Sätze mit ihr wechseln, ohne mit einer Klage rechnen zu müssen. Die Manie isolierte sie in der Familie. Cole wusste sich nicht richtig zu wehren gegen eine Frau, die lange von vielen bewundert worden war. Ihr gepflegter Kopf sank auf Coles gepanzerten Thorax.

Holger kreuzte auf und schaltete sich ein. Cole ging zu den irren Alten auf Aufstand. Im Gegensatz zu Holger war er kein verdorbener alter Mann mit grauen Muskeln, der ein Dutzend sozialistisch gestimmter Oberschülerinnen mit seinem Repertoire vertraut gemacht hatte.

Keine hatte sich je öffentlich beschwert, keine Holger demonstrativ von ihrer Liste gestrichen. Bei jeder Gelegenheit Küsschen links, Küsschen rechts. Es war unglaublich. 

Zwischen Apologetik und Apotheose - Wie das Bürgerliche kreißte im Saal der toten Seelen, um die Mäuse der feudalen Anverwandlungen zu gebären.

Cole saß wieder bei den Ausgeglichenen, Kiowa servierte Eiskaffee aus dem Café Dolomiti. Die polnische Haushaltshilfe an Heinrichs Hof war das beste Beispiel für bourgeoise Inkonsequenz. Man predigte Wasser und trank Wein. Friedrich Schiller hatte mehr als einen Francis Ford Coppola in sich gehabt. Sturm und Drang waren Rock und Roll gewesen. „Kabale und Liebe“ erzählt von der Liebe einer Musikertochter namens Luise Miller zu dem Präsidentensohn Ferdinand von Walter. So eine Luise kommt an sich nur als erotische Gelegenheit im Fahrplan des Adels vor. Das versucht der alte Walter seinem auf Luise heißen Sporn klarzumachen. Klarzumachen versucht er ihm die Staatsräson. Auf der anderen Seite steht Miller, geduckt und listig, allezeit mit einer Fürstenfaust im Nacken und der eigenen laschen Patschhand in der Hosentasche. Ein Kujonierter, dem das Leben Sorgen macht. Wen Gott bestrafen will, dem gibt er eine schöne Tochter. Dem Mädchen stellen die jungen Kennedys nach und winken mit ihren Prädikaten.

Heinrich war ein Göttinger Großbürger in der Kasseler SPD. Von Haus aus Theaterwissenschaftler und kraftloser Koloss. Bundesverdienstkreuzträger. Heimgesucht von der Liebe zu allem Arabischen. Heinrich leitete das afro-asiatische Studienwerk. Besonders kümmerte er sich um israelische Palästinenser:innen*, um die zukünftigen Ärztinnen* und Ärzte* und Ingenieurinnen* und Ingenieure* eines Volkes, das auf einem Schwebebalken der Geschichte sein Gleichgewicht suchte. Seit Jahren verkehrte Cole im Leise-Kreis; meistens war Heinrich nicht da. Ihn inkorporierte Iris, eine der wenigen Verehrerinnen des aus Lubbock, Texas, gebürtigen Karate-Überfliegers, die nicht im Dōjō von Coles Großtante Maeve von Pechstein ihre Form zwischen Spagat, Bruchtest und Zen-Kontemplation suchte.

Iris hatte noch einen Bruder, einen angenehmen, naturwissenschaftlich interessierten und deshalb außer Konkurrenz laufenden Taylor, dem der allgemeine Jugendstress am Arsch vorbeiging. Ein Glückspilz, der auf seine Weise Müllers „Hochzeit von Mensch & Maschine“ antizipierte. Der zukünftigen Theaterregisseurin Iris bot Kleist „eine große Projektionsfläche“, so sagte es Heinrich, der seine Tochter zu Zadek und Peymann aufschließen sah. Iris sollte Heinrich übertreffen.

Margarete, Iris und Heinrich gelangten mühelos von Schiller via Kleist zu dem unbeliebten, der Fresssucht verfallenen, in dem Brigant:innen*nest Saint-Malo geborenen Aufklärer La Mettrie, dessen mechanistisches Weltbild im 19. Jahrhundert von Lessing dramatisiert worden war. Schiller schrieb 1782: „Daher möchte man beinah … die Maschinisten wieder ermuntern.“ Man wandte sich „gegen die Empfindung“, die schauspielerische Leistung sollte „dem Nachdenken“ folgen.

Ja, es gab für die Kasseler Jeunesse dorée nicht nur Karate in den letzten Schmidtjahren, bevor der gesellschaftliche Wind sich drehte. Manche Leute machten sich überhaupt nichts aus Maeves Hotspot am Lokalbahnhof Wilhelmshöhe. Maeve war als Tochter einer Vulkanologin in Japan aufgewachsen. Von Kindes Beinen an war sie in Karate, Kalligrafie, Schwertkampf und Meditation unterwiesen worden. In Kassel überragte sie das Publikum. Nicht nur mir erschien sie als Halbgöttin. - Und Cole schickte sich an, zu Maeve aufzuschließen.  

Szenenwechsel/In der Söhre 

„Was ist Größe?“ fragte Cole seinen Wing-Chun-Lehrer Xuan. 

Cole betrachtete ein von Holzerntemaschinen gepflügtes Feld. Die forstwirtschaftliche Perspektive erschloss sich ihm als Gemetzel. Es wurde ständig geschossen. Weit und breit war nichts sorgfältiger arrangiert als die Schneisen zwischen so geschickt versetzten Hochsitzen, dass die Arglosigkeit der Rehe von zwei, mitunter sogar von drei Seiten angegriffen werden konnte.

Man betrieb Massentierhaltung im Wald. Der Verbiss zeigte, worauf nicht geachtet wurde. Röhren zum Schutz junger Sprossachsen lagen wild abgeworfen herum und bildeten unschöne Halden.

Xuan entgegnete: „Fleiß.“

„Und wie verhält sich Begabung zu Größe?“

„Sie ist eine Sackgasse im schlechtesten Fall und im besten Fall ein Umweg.“

Harte Hände

Cole und Xuan machten sich wieder daran, ihre Hände zu härten. Xuan war ein lachender Spuk. Saigon hatte er bereits im April 1975, wohl im direkten Zusammenhang mit dem amerikanischen Abzug und im Geleit einer großen Familie verlassen. Der Klan war von der Besatzung eines deutschen Hospitalschiffs geborgen worden. Er hatte in Kassel die Taekwondo-Abteilung einer als Judoverein gegründeten Kampfsportschule aufgebaut und in Lohfelden das erste vietnamesische Lokal eröffnet.

Xuan verband ein klandestines Familien-Gong-fu mit Wing Chun. In Erscheinung trat er aber nur als Taekwondo-Meister. Cole unterwarf sich in einem traditionellen Lehrerschülerverhältnis. Er integrierte Xuans Repertoire in sein Karate-Konzept, das er heimlich Okinawa-Te nannte. Das auf Okinawa im Mittelalter mutierte chinesische Boxen steht in keiner Verbindung zur Kampfkunst der japanischen Kriegerkaste. Die Samurai (Bushi) trainierten keine Urform des Karate. Sie gingen von Waffen aus, die stets griffbereit waren und deren Verlust im Kampf einem Todesurteil nah kam. Auf dem schmalen Grat einer Begegnung zwischen einem Bewaffneten und einem Entwaffneten setzten sie auf Techniken, die später im Judo und Aikido entschärft wurden. 

Morgen mehr.