Auf dem Tiroler Knollhof am 21.09. 2021 © Jamal Tuschick
„Verbiete die Befragung des Orakels und bekämpfe abergläubische Zweifel.“ Sunzi
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“What stands in the way becomes the way.” Marcus Aurelius
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“If you’re looking to learn Self Defense, don’t study Wing Chun. It would be better for you to master the art of invisibility.” Wong Shun Leung
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“Don’t … fight the incoming force.” Sifu Sergio
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“I compromise the integrity of his balance.”
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“Shorei-Kan does have high level kicks or Roundhouse kicks, or any such flashy techniques that leave weak points exposed.” https://shoreikan-karate.com/en/characteristics/
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“Four ounces defeats a thousand pounds.” Taiqi-Allgemeinplatz
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“Transform the force back into your opponent.” Adam Mitzner
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„Fast ein halbes Jahrtausend bevor in der kognitiven Psychologie das Konzept des kontrafaktischen Denkens aufkam, begriff Montaigne, dass uns die Gedanken an die Gefahr viel stärker belasten als die Gefahr selbst.“ Bert te Wildt/Timo Schiele
Amina Coogan war die erste Kasseler Vollkontaktkarateweltmeisterin …
Dreißig Jahre nach Aminas Hochzeit als Weltmeisterin, ihren Titel konnte sie zweimal verteidigen, präsentiert sich ihre Siegesschmiede, die Karateschule Pechstein am Wilhelmshöher Bahnhof als strahlender Sportplatz. Schulleiter Cole von Pechstein predigt Modernität. Den Forderungen einer permanenten State-of-the-Art-Performance zu genügen, beweise die Fähigkeit zur Anpassung. Der Spreu freut sich über die Erleuchtungen aus dem Supermarkt. Was darüber hinaus geht, bleibt den meisten Beitragszahler:innen* verborgen. In einem geheimen Dōjō, kombiniert mit einem Fünfsterneplus-Spa, fegt ein Wind der Erkenntnis durch den Weizen. Eingeschlossen im Ring der Leidenschaftlichen, lehrt Sensei Cole Karate als Daseinsform.
Nach einem sagenhaften Aufstieg in der Geschäftswelt gliederte sich zuletzt Lien Thunderbolt in die exklusiv-verschworene Gemeinschaft wieder ein. Lien zählte zu den Praktizierenden der Kaderkeimzeit in den späten Schmidtjahren, als Cole die Schule von seiner Großtante Maeve übernahm und die Amina-Ära einläutete.
Ausgerechnet Amina - Aus dem Off/Im Präsens von damals
Amina sticht nicht heraus. Sie ist die Blasse im Schatten ihrer karateverrückt-flamboyanten Schwester Anzu. Anzu strebt nach Vollständigkeit. Sie will alles wissen. Deshalb studiert sie Karate in einem Dōjō am Fuß des Kumotori im Okuchichibu-Gebirge, und Japanologie in Göttingen.
Amina absolviert eine Ausbildung zur Physiotherapeutin in Wilhelmshöhe. Sie wechselt noch nicht einmal den Stadtteil aus lauter Saumseligkeit. Die japanischen Begriffe spricht sie falsch aus. Sie entschuldigt sich achselzuckend.
Amina ist schneller und beweglicher als alle anderen, die sich in der Frauenleistungsgemeinschaft zusammengeschlossen haben. Sie kapiert Coles taktische Anweisungen nicht nur. Vielmehr leuchten ihr die Finessen ein. Unter lauter Verblendungen rührt sich ein martialisches Wesen.
Amina kämpft gern. Das findet sie befremdlich und würde es nie zugeben; ungeachtet eines Mangels an Anstößigkeit. Eine Karateka, die nicht kämpfen will, kann sich überhaupt nicht entwickeln. Nur wer weiß, wie es sich anfühlt, k.o. zu gehen, begreift den Nutzen der Techniken für die Selbstverteidigung.
Wohlstand statt Freiheit
In der Gegenwart eines neuen Jahrtausends gehört Amina zu Coles Cheftrainer:innen*team. Sie verantwortet die Vortragsabende, die zum Sozialleben der Schule gehören. Heute Abend spricht Lien über ihre Erfahrungen in China.
Wohlstand statt Freiheit. Mit dieser Formel wurde die Dschunke des chinesischen Wirtschaftswunders zu Wasser gelassen. Kaum floss das Geld zur Mitte, tauchten liberalen Ideen auf. Die demokratisch konnotierten Teilhabeerwartungen einer neuen Mittelklasse schufen sich ihre eigenen Instrumente.
Das passte Xi Jinping nicht.
Die in der zweiten Morgenröte der chinesischen Revolution Person gewordene Partei erfüllt die Idee einer historischen Kontinuität; einer Mission, deren Chefnavigator:innen* ihre Seekarten als Staatsgeheimnisse hüten. In dieser Perspektive funktioniert Konsum als Weichmacher einer Diktatur, die vom Geschichtsverlauf bestätigt und angehoben erscheint.
Die Wahrheit bleibt eine Variable.
Lien beschreibt, wie die Partei absolute Kontrolle über absolut Alles rigoros wiederherstellte.
Die Idee der historischen Kontinuität: in der chinesischen Lesart summieren sich die Staats- und Gesellschaftsdebakel der letzten dreihundert Jahre zu einer verrutschen Plansollerfüllung im Spektrum der Belanglosigkeit.
Man spricht von einem Betriebsunfall.
In der Parteiauffassung blieb China stets im Plus der im Bauplan der Welt vorgesehenen Suprematie. Grundlage der Jahrtausende währenden Vorherrschaft ist ein brutal schillernder Autoritarismus beinah schon als fixe Idee.
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Mao erpresste Bäuerinnen* und Bauern*. Er entzog den Produzent:innen* die Arbeitsleistung über das Existenzminimum hinaus, um in den sozialistischen Schwester*- und Bruder*ländern Getreide und Fleisch gegen militärisches Know-how einzutauschen.
„Ganze Dörfer starben aus.“
„‚Die Toten sind nützlich‘, erklärte Mao … ‚Sie können den Boden düngen‘.“
Das Geschäftsgebaren der roten Mandarine und ihrer Trabanten, so sagt es Lien, basiere auf Verflechtung. Man agiere in einem System persönlicher Beziehungen, die sich auf allen Hierarchiestufen gleich gestalten. Die historischen Wurzeln und Modalitäten des Nepotismus ließen sich nicht umgehen. Der Austausch gefüllter Briefumschläge entspräche einem Standardverfahren.
Gleichzeitig vollstreckt die bis in die Haarspitzen verfilzte Regierung auf der Ebene ihrer Gerichte Todesurteile, die mit Korruption begründet werden.
Liens Aktivitäten erstreckten sich bis vor kurzem auf die wichtigste chinesische Logistikdrehschreibe: den Beijing Capital International Airport. Der Chef des Flughafens, Li Peiying, wurde 2006 festgenommen und 2009 wegen Korruption hingerichtet.
Lien in der Retrospektive: Lis Festnahme war ein Menetekel. Der Vorgang finalisierte eine allenfalls zaghaft-demokratisierende Tauwetterperiode. Nach dem Sturz des Diskreditierten stellen Gefolgsleute des Nachfolgers die Frage nach Liens Spielberechtigung.
Die Ungleichzeitigkeit zwischen traditionellen Lebensentwürfen und dem gelebten Futurismus der Wirtschaftskrieger:innen*kaste, die unter der Führung von Xi Jinping zum Großen Sprung 2.0 ansetzt, schafft nicht nur schroffe Demarkationslinien zwischen Arm und Reich; sie lässt eine Supernova chinesischer Extravaganz entstehen, die in ihrer grandiosen Auffälligkeit einen klandestinen Charakter bewahrt.
Ich frequentierte die Pekinger Spitzengastronomie. Es war das reine Schaulaufen. Die Status-Trümpfe wurden knallend ausgespielt. Standardgerichte kosteten fünfhundert Dollar pro Person. Ich bestellte gern eine Suppe aus einer Fischschwimmblase für tausend Dollar.
Ich fuhr einen 6-Liter-Audi mit zwölf Zylindern und wohnte in einem unverschämt teuren Appartement.
Liens Ausführungen offenbaren westliche Informationslücken. Amina döst respektvoll. Liens globaler Durchblick als Suada: bei der Zurückgebliebenen löst so viel Weltläufigkeit und Katzenjammer die Erinnerung an ein frühes Erstaunen über den Ehrgeiz der Anderen aus. Der gymnasialen Avantgarde unter den Karateka* entging, dass Coles Umbau einer eher verschlafenen, wie ein Gemeindehaus frequentierten Sportschule zum Frauenleistungszentrum einem Kalkül folgte; dass Cole die Zeichen der Zeit erkannt und rigoros-opportunistisch (nach den Prinzipien*) darauf reagiert hatte.
* Stay with what comes, follow through as it retreats …
Bereits die ersten Wettkampferfolge lösten einen Hype aus. Bald bretterte Cole im Porsche durch Kassel. Seinen Spitzenschülerinnen erschien er großzügig. In Wahrheit speiste er sie ab. Unter den Praktizierenden der zweiten Reihe versprach sich Lien am meisten von ihrem direkten Meisterdraht.