Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.
In den 1990er Jahren in Ligurien © Jamal Tuschick
“Hope is action“ Amos Oz
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„Wenig hat sich geändert, aber nichts (ist) mehr, wie es war.“ Jürgen Becker
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„Der Erfolg setzt ein, wenn die Wirkung vorbei ist.“ Heiner Müller
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“And than you become a victim of your mind.” Huai Hsiang Wang
Amerikanisches Vorleben
„Ein Pessimist könnte die Geschichte von Paris zusammenfassen in einer ununterbrochenen Folge von Katastrophen: (von) Kriegen, Feuersbrünsten, Massakern, Hinrichtungen, Überschwemmungen, Epidemien, Hungersnöten.“
Mit diesem Wort von Ré Soupault konterte Cole den Skeptizismus seiner zur Urteilsfähigkeit erzogenen Schülerinnen. Die serielle Zurückweisung jedweden Überschwangs gehörte zur Distinktion der Debütantinnen.
Wir mussten umlernen, in mühsamen Prozessen. Coles schrankenloser Optimismus erschien uns zuerst wie ein Verwerfungsprodukt der Kulturindustrie. Wo blieb das kritische Bewusstsein? Wir zitierten Adorno. Cole entgegnete:
„Adorno konnte nicht japanisch denken.“
Jene höheren Töchtern, die in Maeve von Pechsteins Karateschule nahe dem Lokalbahnhof Wilhelmshöhe die Sehnsucht ihrer Mütter nach verlässlicher Stärke materialisierten, fanden Coles Einwand schwach. Was war Japan im Vergleich mit Adorno.
„Keineswegs gebe ich mich der Illusion hin, als könne ich an die Wurzeln der Erscheinungen dringen.“ Hans Magnus Enzensberger in einem Brief an Theodor W. Adorno 1965
„Geliehen“ nennt Enzensberger den von Adorno kreierten „Fond seiner Untersuchungen“. Das beschreibt ein Standardverfahren der Literaturproduktion. Enzensberger spielt den Trabanten im Kraftfeld einer pontifikalen Potenz. Der Ältere lässt sich die Artigkeiten des Pseudo-Adoranten gefallen.
Selbstverständlich boten wir lediglich Beispiele für einen sorglosen Umgang mit Geliehenem. Bei Cole lag der Fall anders. Heute gefällt es mir zu denken, er sei das Produkt eines Experiments seiner großmeisterlichen Großtante Maeve aka Viktoria Frankenstein gewesen; die ihn als dreijährigen Vollwaisen nach ihren Idealvorstellungen zu formen begonnen hatte. Während die meisten unserer Kohorte nach dem Schnupperkursprinzip erst einmal nichts richtig lernten, setzte Shihan Maeve ihren Großneffen im Vorschulalter in einen unaufhaltsamen Karatezug. Mit sieben wurde Cole Novize in einem Karatekloster auf Okinawa. Mit dreizehn hatte er bereits sechs Jahre in Asien gelebt. In seinen Augen besaßen wir nichts, was wir opfern konnten. Allenfalls waren wir Opfer unserer Vorstellungen.
Cole führte uns zu dem Punkt, der ihn interessierte. Konnten wir Ahnungslosen in einem Gemeinschaftswerk, gleichsam aus der Retorte, eine Karateweltmeisterin herstellen? Er gründete das Frauenleistungskader, trennte die Kader-Athletinnen vom Gros und ertrug eine gänzlich unjapanisch geführte Auseinandersetzung, wer denn nun unsere Königin sei. Sämtliche Favoritinnen scheiterten an der Außenseiterin Amina Krasota-Eisenfuß. Ich komme auf sie zurück.
„Wird ein Ort dem Auge zugänglich, ist er in bestimmter Hinsicht nicht länger der Fantasie zugänglich.“ Joan Didion
Als ich den Satz zum ersten Mal las, fiel mir mein amerikanisches Vorleben sturzbachartig wieder ein.
Von Cap Code nach Kassel
Guten Tag, mein Name ist Serena Hideyoshi. Mein Kindheitseden hieß Cap Code. Andere verbrachten ihre Ferien am/im Higgins Hollow. Ich lebte da lange das ganze Jahr.
Das Jedediah Higgins House an der Higgins Hollow Road war eine strandnahe touristische Sehenswürdigkeit aus der Pionierzeit. Es gab Siedlungsmarken aus der Pilgrim-Ära. Ornithologische Ausnahmeerscheinungen. Ozeanische Sensationen. Atlantische Abenteuer. Flora- und Fauna-Sonderfälle. Kontemplative Augenblicken in der Gegenwart lebender Fossile. Training in Toteisseen*. Kanutouren. Karatetraining bei Sensei Tran, einer Schülerin von Maeve. (Meine erste Meisterin sorgte dafür, dass ich in Kassel gleich den besten Karate-Anschluss fand.)
*„Ein Toteissee entsteht beim Zurückweichen eines Gletschers.“ Wikipedia
Meine Mutter Eileen, stellt sie euch wie Jackie Onassis vor, so elegant-korrumpiert, geisterte durch die Neben- und Nebellabyrinthe der New England-High Society. Eileen beanspruchte einen Lebensstil, den sie sich nicht leisten konnte. Ich und meine Geschwister übernachteten ständig bei anderen Leuten, angefangen bei meinem leiblichen Vater, der mit einem finnischen Model verheiratet war, das ihm schwer zusetzte. Yunai, eine müßiggängerisch-reiche Freundin der Familie, bot dem Nachwuchs in ihrer Prachtwohnung die richtige Umgebung. Sie stammte aus einem koreanischen Klan, der sich überall der Welt aufgeschlossen und avantgardeaffin zeigte, in Korea aber auf die allertraditionellste Weise den Göttern des Patriarchats huldigte. Yunai und ihr Geliebter turnten nackt vor uns herum. Sie spielten uns ihre Lieblingslieder vor.
Wie ineinanderlaufende Wasserfarben veränderten sich die Erscheinungen dessen, was ich für Familie, Eltern, Kindsein halten sollte. In dem vulkanischen Geschehen gab es keine Beständigkeit, bis meine irrlichtende Mutter sich in Kassel mit einem Muster der bodenständigen Beschaulichkeit vermählte. So entging sie dem sozialen Crash. Sie verkörperte eine Welt, die in den altbackenen Verhältnissen ihres Biedergatten von Tag zu Tag unwirklicher wurde.
Ich floh ins Training.
P.S.
Ich könnte mich heute nicht mehr mit Karate verteidigen. Wie habe ich meine Kompetenz verloren? Dazu morgen mehr.