Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
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In den 1990er Jahren auf der Koppel © Jamal Tuschick
“Muscle Tension will always overrides your intention.” Sifu Nima King, Quelle
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„The hardest thing to do under pressure is to take perpendicular force to your structure.” Sifu Nima King, Quelle
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„Die meisten Leute können sich ihre Integrität nicht physisch garantieren.“ Maeve in Pechstein
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„Erwartungslos das Beste aus sich zu machen: das verlangt der Spirit des Okinawa Te.“ Cole von Pechstein
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„Eine besondere Charakteristik von Siu Lam Wing Chun Kuen ist das Denken in Prinzipien … Ein entscheidender Vorteil ist die Allgemeinheit, Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit der Prinzipien. Beachtet eine Frau die Prinzipien … macht (sie) im Normalfall zumindest keine gravierenden Fehler.“ Maria Grothe, Quelle
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“We try our best to create a new curriculum which combines several Weng Chun lineages with Hung Kuen and Okinawa Karate.” Sifu Sunny So (dem Sinn nach) in einem Interview mit Sifu Sergio
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Jede Re-Kombination von Gong-fu und Karate entspricht der Reanimation einer antiken Beziehung. Bereits Anfang der 1980er Jahre bildete sich in der Kasseler Karateschule Pechstein ein Kreis um Großmeisterin Maeve von Pechstein, der sich mit Bunkai befasste. Hervorzuheben ist Anzu Stonewall-Eisenfuß, die Japanologie studierte, um unsere Gemeinschaft bis zu den Originalquellen führen zu können. Aus der Bunkai-Arbeitsgruppe ging das Referat Die geistigen Grundlagen der Selbstverteidigung hervor. Nach der Neugründung der Ritterlichen Schwestern zu Kassel verwandelte sich das Referat in eine Lebensform unter dem Banner Karate leben. Das Ensemble vereint Frauen, die Karate ins Zentrum eines geschlossenen Kreislaufs gerückt haben. Nach dem täglichen Dauerlauf sind sie vielmehr angeregt als erschöpft. Selig baden sie im Schweiß. Ihnen geht einmal wieder eine Zusatzbedeutung des Wortes zusammengeschweißt auf. Untersuchungen weisen auf Kontaktstellen zwischen sozialen Komponenten und Hormonausschüttungen hin. Athletinnen, die kollaborativ an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit gehen, erleben im besten Fall ein Gemeinschaftshoch. Die Neurobiologin Natsuki Löwenherz weiß, dass nicht Endorphine für die Euphorie verantwortlich sind, sondern Endocannabinoide. Aber da ist noch etwas anderes. Während Natsuki bei Männern leptosome Zurückhaltung lockt, reizt sie bei Frauen die definiert-bramarbasierende Muskulatur. Das bildhauerisch Herausgemeißelte, gewissermaßen Herausposaunte. Der eitle Sporn.
Natsuki, die als Siebenjährige in Maeves feministisches Dōjō am Wilhelmshöher Lokalbahnhof eintrat, erzählt heute Schoten aus den 1970er Jahren, als verunsicherte Sozialdemokrat:innen* sich vom Karatetraining mehr Selbstbewusstsein erhofften.
In der Steinzeit der Karateschule Pechstein hielten viele Maeve von Pechstein für eine „Lebenskünstlerin“, die auf der Hippierille hängengeblieben war und es nun mit „Zen-Trallala und Esoterikgedöns“ versuchte. In Kassel liefen die Motoren der Gegenwart mit gedrosselter Veränderungsgeschwindigkeit. Im deutschen Herbst war man noch im Easy-Rider- und Cinecittà-Western-Modus. Kraftmeier trugen Staubmäntel, Cowboystiefel und den Fu Manchu aka „Mongolenbart“. Manche besonders verwegenen Haudegen statteten Maeve einen Besuch zwischen zwei Stopps auf ihrer Kneipentournee ab. Sie stanken nach Asbach-Hütchen. Daran gewöhnt, zumindest abstoßend zu wirken, erstaunte sie die gelassene Freundlichkeit, mit der Maeve alle Anwärter:innen* persönlich empfing.
Ahnungslose verwechselten Maeves kontraintuitive Maske mit Wohlwollen und Zugänglichkeit. Im Roten Kreis der Eingeschworenen lehrte Maeve: Man dürfe seinen Feind:innen* keine Brücken bauen, über die sie in die Burg, die es zu halten gelte, vorstoßen können.
Heimlich mochte Maeve den rauen Stil. Sie war in Japan durch drei Karateschulen gegangen. Sie konnte Straßenkarate, eine in Japan diskreditierte Kunst, die man mit Yakuza und mehr noch mit den Zainichi-Gemeinden assoziierte. Ōyama Masutatsu, geboren als Choi Hyung-yee, und Begründer des Kyokushin, gehörte genauso zur koreanischen Minderheit in Japan wie sein Meisterschüler Shokei Matsui aka Moon Jang-gyu.
Maeve war eng befreundet mit dem Spross einer via Osaka in Japan eingewanderten Spielhöllendynastie*.
*Automatenhallenunterhaltung verbindet sich in Japan vielfach und in langen Traditionslinien mit der koreanisch-stämmigen Migration. Die mitunter in der vierten Generation geächteten Garant:innen* eines süchtig gesuchten Vergnügens haben die Reputation von Dealer:innen*. Ohne jede Anerkennung sind sie systemrelevant.
Wer vor dem Krieg in Osaka war, wird sich erinnern. Der vertraute koreanische Trott fand auch im Einwanderungsviertel nicht statt. Die Migrant:innen* wurden offensiv diskriminiert. Sie mussten sich auch vor ihren Landsleuten fürchten. Es herrschte doppelte soziale Kontrolle. Die Mehrheitsgesellschaft guckte von oben auf die Verhältnisse der Zugezogenen. Die Community zerrte an sich selbst herum. Dazu kamen Gefahren, die von gescheiterten Migrant:innen* ausgingen. Manche suchten ihr Heil in privatgemeinschaftlicher Schwarzbrennerei und im organisierten Verbrechen. Dazu gehörte das Glücksspiel. Es spielte zwar eine enorme Rolle im japanischen Alltag, zog aus seiner Popularität aber kein Prestige.
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Die martialische Einfalt rannte ungebremst ins offene Messer von Maeves vorgetäuschter Freundlichkeit. Sie kam nie wieder. Kein Schläger fand einen Ankerplatz in einer Sphäre, die für friedliche Verkehrsteilnehmer:innen* grenzenlos einladend war. Erkannte Maeve elternhäusliche Defizite richtete sie Geburtstage für die armen Kinder aus. In ihrem Dōjō wurde gewichtelt und gebastelt. Das hielt Maeve nicht davon ab, ihren als Vollwaise übernommenen Großneffen Cole kurz nach dessen siebten Geburtstag in einem Karatekloster auf Okinawa auszusetzen.
Maeve wusste: Die wahre Schwertmeisterin verschmilzt mit ihrem Schwert. Folglich führt sie ein Schwert mit Bewusstsein. Stichwort Magic Force.
Zu Maeves Wackeren und Getreuen der ersten Stunde gehörte der harte Kern eines SPD-Ortsverbands. Die von meinem Vater angeführten Sozis* wurden täglich von extremistischen, Sekten bildenden Politstrolchen terrorisiert. Sie suchten einen Weg aus dem Jammertal der Wehrlosigkeit. Das sozialdemokratische Wir hatte hundert Jahre Arbeitskampf in der Industriegesellschaft auf dem Buckel, vom Informationszeitalter hatte niemand gehört. Was diese Leute konstituierte, zählte zur Vergangenheit, obwohl alle selbstverständlich nur das Brausen der Gegenwart vernahmen.
Wolfgang Streeck, auf den sich Oskar Lafontaine oft bezog, erkannte: „Die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft erwies sich als weit kleiner als die untergehende Industriegesellschaft; so wuchs die Zahl der nicht mehr Gebrauchten, der Überschussbevölkerung.“
Die mehrfach Bedrängten erkannten die Reiter:innen* der Apokalypse nicht. Ihnen erschien der langsam aufkommende Hedonismus für den Hausgebrauch so degoutant wie für meinen Vater das Wort Lingerie, das wie Savoir-vivre zu seiner Verfügung stand, wenn auch gezogen aus einer Tiefsee. Vielleicht komme ich darauf zurück.
Für die braven Flugblattverteiler:innen* erfüllte sich das politisch Machbare in „Verteilungsgerechtigkeit“ und „Transparenz“. Kein Mensch hätte ihnen erklären können, dass die neue Zeit (die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft des Informationszeitalters) durch die Hintertür des Genusses Einzug halten, das heißt, im doppelten Sinn ohne Arbeit daherkommen würde. Wolfram Siebeck war ein Herold der Zukunft, Lafontaine & Siebeck boten im Jetzt von Siebenundsiebzig dem politischen Morgen ausgeschlafene Gesichter.
Die Sozialdemokrat:innen* wussten nicht, wie Verdrängung funktioniert. Maeve versuchte ihnen ihre Zukunft klarzumachen …
… im Karate setzt man die Verdrängungsenergie der Gegner:innen* gegen die Verdränger:innen* ein. Man spekuliert förmlich darauf …
… allein, Verdrängung blieb eine ungeläufige Kategorie. Die hölzerne Vernunft regierte. Man glaubte nicht, dass hinter der Presspappe des Vokabulars die Psyche ihr eigenes Ding abzog. Man hatte alles im Griff so weit. Ein Zipfel der inneren Not (einer Generation vor Bomben unter die Erde geflohenen und vor Tieffliegern, die lachend Maschinengewehrsalven versendeten, davongelaufenen Kinder), zeigte sich, wenn mein Vater Lingerie aussprach. Es gab dafür nur einen Kontext. Nach dem Krieg hatte meine Großmutter in den „Amikasernen“ die Siegerwäsche eingesammelt. Die Soldaten warfen sie in Beuteln aus dem Fenstern, sobald Großmutter in ihrer neuen Rolle als Waschwitwe „wie eine Landfahrerin“ mit nur einem marktschreierischen Wort um die Wäsche gebeten hatte. Die Frau eines Sozialdemokraten, der sich vor den Nazis so wenig hatte einschüchtern lassen, dass er in einer Strafkompanie auf der Krim verheizt worden war, packte die Beutel in einen Kinderwagen; umsprungen von ihren Kindern. Mein Vater und sein Bruder hatten eine 1943 bei der letzten Gelegenheit gezeugte Schwester, auf die sie nicht immer gut aufpassten. Lingerie war das Stichwort für einen Abgrundtext.
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Die SPD war die Partei der Industriegesellschaft und die Industriegesellschaft war am Ende. Sonst wäre die SPD nicht an die Macht gekommen. So wurde sie zur Partei des Umbaus. Wer außer der SPD hätte den Abbau des Sozialstaates als Reformprojekt darstellen können?
Im Gegenlicht von Maeves Karatepragmatismus erschien mir das Programm meines Vaters zunehmend fragwürdiger. Ich verweigerte häusliche Diskussionen und suchte Anschluss an die Dōjō-Debatten. Sie drehten sich schon in den 1970er Jahren um den Kreis. Dazu bald mehr. Weitere Stichworte waren Mühelosigkeit, Gegenwärtigkeit und Gleichzeitigkeit. Lange entschleierten sich mir nicht die Prinzipien, siehe Sifu Maria Grothe hier. Auch die Übertragung der Kraft aus dem Rücken auf die Hände entbehrte lange der Plausibilität. Obwohl das japanische Ki nichts anderes sagt als das chinesische Qi, redeten alle von Qi, damals noch Chi, siehe Tai Chi/Taijiquan. Wandervögel nannten wir jene, die vom Karate auf die Tai Chi-Seite wechselten. Tai Chi war nach einem langläufigen Begriff Meditation in Bewegung. Natürlich wusste Maeve es besser. Aber selbst sie konnte uns nicht so weit über unser Niveau heben, dass wir ihren Kampfkunsthorizont auch nur erahnt hätten.