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2022-09-05 07:49:41, Jamal

Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.   

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

In den 1990er Jahren am Berger Hang © Jamal Tuschick

“I don’t offer any force to my opponent.” Sifu Yap Boh Heong

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“Meet me means to meet emptiness.” Sensei Cole von Pechstein

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“You know your weight is on me, because when you start to move it is moving me.” Sifu John Kaufman

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“Every joint in your body is a gear.” Sifu John Kaufman

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“You have to use your mind to let all that stay turned-off when you move … it’s against our instinct … but with practice you can learn to trust it.” Sifu John Kaufman

Life Changing Stuff

Mit Anfang Zwanzig befasste ich mich mit den Chancen, die Kirchenbücher, Auswanderungsgeschichten und die Überlieferungen von Hofmiseren einer angehenden Historikerin boten. Darauf gebracht hatte mich John Berger. Berger lebte in den Savoyer Alpen.

Es gab kein fließendes Wasser. Das Waschgeschirr war antik. Die Kanne hatte den Schwung und die Farbe eines Schwanenhalses. Die Schüssel passte wie die Untertasse zur Tasse eines Service. Dass die Dinge konvenieren, war nicht selbstverständlich in der Tagungsstätte am Fuchstanz im Taunus. Naturfreund:innen* hatten das Haus gebaut. Sie bewirtschafteten es mit Freiwilligen, die sich gutmütig zu unbezahlten Diensten einteilen ließen und in ihren Schichten keinen Stress erleben wollten. Trotzdem war nicht wenig Arbeit mit der Versorgung der Falken-, Jungsozialisten- und Gewerkschaftsjugend-Gruppen verbunden, die in malerischer Lage über die Kämpfe der Arbeiter:innen*klasse, die Notwendigkeit einer Revolution sowie über ihre Bausparverträge und andere Geldanlagen sprachen.

Der Frauenleistungskader der Kasseler Karateschule Pechstein fiel in dieser Umgebung aus dem Rahmen. Wir bildeten die unpolitische Ausnahme. Daran verschwendeten wir selbstverständlich keinen Gedanken. Zu offensichtlich waren wir die Interessantesten vor Ort. In unserer Mitte gab es eine Europameisterin und drei Athletinnen, die bei Deutschen Meisterschaften stets um den Titel kämpften. Daran gewöhnt, dass unsere allgewaltige Überlegenheit angezweifelt wurde, überhörten wir sämtliche Spitzen. Wir kannten jeden Vorstoß aus dem Geist der Ungläubigkeit. Die Varianten mischten sich mit Avancen. Vollkommene Blindgänger glaubten, uns auf die Probe stellen zu können. Die Aktivist:innen* trauten durch die Bank allein unserem Trainer mehr zu als ihren Gassenhauer:innen*.

Blutige Heimsuchungen

Heute stellt sich mir Cole als bedauernswert deformierte Persönlichkeit dar. Seine Eltern waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Eine Schwester seiner Mutter, unsere Großmeisterin Maeve von Pechstein, hatte Cole aufgenommen und ihn nach ihrem Ideal geformt. Von seinem siebten bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr durchlief er zwei kampfkünstlerische Exzellenzstationen in Asien; zuerst als Novize in einem Karatekloster auf Okinawa und dann als Schüler im ursprünglichen Shaolin Tempel (in Dengfeng). In seinen einsamen Jahren erzogen ihn durch Biernebel geisternde Expert:innen*. Monolithische Erscheinungen. Hermetische Existenzen im Orbit ihrer Zazen-Sucht.

Cole war blutigen Heimsuchungen ausgesetzt. Er erzählte von Mordversuchen. Andere Schüler:innen* hätten „die Made“ unerbittlich mit Hass verfolgt. Unter diesen Umständen absolvierte er die anspruchsvollsten Pensa. Nach seiner Rückkehr unterrichtete er in der Karateschule Pechstein. Ein Pubertierender als Vize der charismatischen Chefin. Maeve schanzte ihm Privatschüler:innen* zu. Betuchte, die das Besondere suchten. Ihnen erschien Cole als Wunderknabe und Nachwuchsmagier. Cole vermittelte life changing stuff. Das war keine Scharlatanerie. Cole heilte. Es half, wenn er die Hand auflegte.

Heal or harm - In jeder Kampfkunst steckt eine Gesundheitslehre.

Cole konnte seine Gelenke unter Belastung beweglich halten. Stichwort Dekompression. Lange hielt ich diese Information für so unerheblich wie vermutlich Sie im Augenblick. Ich komme darauf zurück.

Cole las die Körper seiner Schüler:innen*. Er sah Blockaden. Er verband sich mit seinem Ziel.

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Die als Herbergseltern Waltenden hatten ihre Gäste mit belegten Broten und Früchtetee abgespeist, das lief unter dem Titel „Fütterung der Raubtiere“, und sich dann in ihre häuslichen Verhältnisse zurückgezogen. Cole spielte den Nachtwächter unserer Mannschaft, und ich blieb zu seiner Unterstützung und Unterhaltung im Gemeinschaftsraum.

Aktivist:innen* schlossen uns in einen Ring of Fire. Sie sangen ihre Spottlieder, bis Cole sie gelangweilt auf ein Gleis des allervorläufigsten Verstehens setzte. Er forderte die Wortführerin der Gegenseite dazu auf, mit ihrem rechten Zeigefinger seinen rechten Zeigefinger zu treffen. Yelyzaveta visierte so sorgfältig wie erfolgreich. Dann legte Cole eine Hand auf Yelyzavetas Arm, bevor er zur Wiederholung der Übung aufrief. Yelyzaveta steuerte Coles vorgestreckten Finger an. Kurz vor dem Kontakt nahm Cole die Hand von ihrem Arm. Der Finger schnellte hoch und schoss buchstäblich über das Ziel hinaus.

“Muscle Tension will always overrides your intention.” Sifu Nima King, Quelle

Im nächsten Durchgang sollte Yelyzaveta Coles als Riegel vorgeschobenen Arm bewegen. Es gelang ihr nicht. Cole fragte:

„Wie fühlt sich das für dich an?“

„Als würde dich eine unsichtbare Macht fixieren.“

Ich sah, wie Yelyzavetas Apperzeptionszentrum die Arbeit aufnahm. Im Gegensatz zu der (wie aus dem Tiefschlaf Geholten und) schlagartig Faszinierten wusste ich, dass sich Cole mit ihr connectet und ihre Steuerung übernommen hatte. Während er seine Gelenke dekomprimierte, verriegelte Yelyzaveta sich selbst. Einmal wieder stieg die Quecksilbersäule der Dankbarkeit in mir auf, in einer Praxis inkorporiert zu sein, die sich einem prozesshaften Begreifen solcher Vorgänge verschrieben hatte.   

Cole bat Yelyzaveta, sich gegen ihn zu stemmen. Wieder fragte er: „Was empfindest du?“

„Als gäbe es nichts, wogegen ich mich stemmen könnte.“

„Ist dir jetzt klar, dass nicht wir es sind, die irgendeinen Scheiß machen und das Karate nennen?“

Yelyzaveta entschuldigte sich indirekt. „Ich gebe es nicht gern zu“, verkündete sie. „Aber ich bin beeindruckt.“

Am dritten Tagungsmorgen verlor ihre Gruppe das Bleiberecht. Zwei Revolutionärinnen* sprengten ein Urinal zur Freude aller. Der aggressive Schabernack enttäuschte die Herbergshelfer:innen* schwer. Die familiäre Verbundenheit mit den Junggenoss:innen* erlosch von jetzt auf gleich. Nun hatten wir unsere Ruhe und konnten uns abstrichfrei auf die Geistigen Grundlagen der Selbstverteidigung konzentrieren.   

Guten Tag, mein Name ist Akiko Varis. Jahrzehnte nach der Klosprengung kam ich als Referentin noch einmal in das Naturfreundehaus. Zwischen Küche und Speisesaal gab es keine Trennwand mehr. Die Art, wie Brotscheiben mit Käse und Aufschnitt flott (vielleicht sogar lustvoll) belegt wurden, brachte mir die Platten voller pyramidal arrangierter Käse- und Wurstbrote in Erinnerung, die ich einst sehr gern gegessen hatte. Mir fiel auch das Waschgeschirr-Arrangement aus Kanne und Wanne wieder ein. Die 1979 längst anachronistische Ansicht organisierte einen Gedankenausflug nach Frankreich. 1981 befasste ich mich mit den Chancen, die Kirchenbücher, Auswanderungsgeschichten und die Überlieferungen von Hofmiseren einer angehenden Historikerin bieten. Darauf gebracht hatte mich John Berger. Berger lebte in den Savoyer Alpen, ich brach das Unternehmen, ihn zu besuchen, auf halbem Weg ab. So dicht vor der Möglichkeit, Berger zu treffen, erschien mir ein Treffen unversehens unmöglich. Viel später las ich eine Geschichte von ihm, die seitdem zum Funktionskern meines Lebens gehört. Berger schildert eine homosexuelle Gemeinschaft in bäurischen Verhältnissen. Da sind zwei zusammen in der Schutzbehauptung gemeinsamer Bewirtschaftung/Hofhaltung. Es gibt die Steigerung, dass ein Partner nach außen die weibliche Rolle spielt und das erst nach dessen Tod und (zuerst) auch nur für den Arzt erkennbar wird. 

Morgen mehr.

P.S.  

Wir vom Leistungskader hatten sonst nicht viel mit Südhessen am Hut. Wir hegten die klischeehaftesten Vorurteile der Nordhess:innen* gegenüber dem prallen Leben in der Rheinmainsenke. Jedoch gab es wiederkehrende Lehrgangs- und Wettkampftermine in Frankfurt, die wir nutzten, um die Stadt zu erkunden. Manche zog es in Schenken und Schwemmen. Cole und seine Korona kamen über Kaffee und Kuchen nie hinaus. Ich erzähle das nur, weil schon damals ein Riss sichtbar wurde, der den Orden der ritterlichen Schwestern zu Kassel mit einer klandestinen Kontroverse belastete. Dazu bald mehr.