Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
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In den 1990er Jahren auf der Koppel © Jamal Tuschick
Soziale Endmoräne
Die Volkshochschule im Hermann-Schafft-Haus bot Johannes Täufer jede Menge Gelegenheiten, unter kryptisch-kruden und hessisch-hieroglyphischen Seminarüberschriften seinen Mysterien-Mix unter die Leute zu bringen. Als VHS-Philosoph mit SPD-Parteibuch zählte er zu jenen, denen geholfen werden musste. Man durfte sie nicht verkommen lassen. Sie besaßen einen politbiblischen Anspruch auf Lohn und Brot.
Täufer war ein schräger Vogel mit gutem Riecher. Als Maeve von Pechstein Anfang der 1970er Jahre ihre Karateschule am Lokalbahnhof Wilhelmshöhe eröffnete, trat er da als Kurator einer philosophischen Reihe auf. Wie ein Schwarzwälder Kuckuck schoss der Schrat aus dem Uhrenhäuschen seines Wahnsinns und riss das geistige Rahmenprogramm an sich.
Heute betreibt Maeves Neffe die Karateschule Pechstein als phantasmagorische Wellnessoase im Stil unserer Kurhessentherme. Cole fehlt jeder Sinn für soziale Endmoränen.
Back to the roots. Täufer stellte ein Augurenensemble zusammen, wie es in Kassel noch niemand gesehen hatte. Er bestellte Maeves Mutter ein. Die damals schon Jahrzehnte emeritierte Vulkanologin Antigone von Pechstein firmierte als weiße Japanerin. Sie hatte ihre akademische Blüte auf der Kaiserinsel Kyūshū in der Präfektur Miyazaki erlebt. Sie residierte nun in einem Barockbau von 1743.
Der Wald- und Wiesenapokalyptiker Täufer verkündete: Atomzeitalter, oh Graus, und die bis zu den Haarwurzeln soignierte Antigone von Pechstein entgegnete: Sachte Gevatter, immer mit der Ruhe. Es war doch von jeher nie anders, als dass jene, die Maschinen aus der Welt schaffen wollten, die Mechanik nicht beseitigen konnten.
Das absurdeste Beinah-Gegenbeispiel beschreibt Noel Perrin in „Keine Feuerwaffen mehr“. Im 17. Jahrhundert fand in Japan ein waffentechnologischer Rückschritt als historischer Sonderfall statt. Die europäische Kriegsführung erschien den Samurai entwürdigend. Deshalb motteten sie ihre Musketen ein, deren Herstellung und Gebrauch ihnen portugiesische Fernfahrer vermittelt hatten. Ich will jetzt nicht über die tieferliegenden Gründe der Enthaltsamkeit reden, sondern lediglich den von Pechstein hervorgehobenen Punkt bestätigen. Als im 19. Jahrhundert die Öffnung der japanischen Häfen erzwungen wurde, wehrten sich die Bedrängten mit allem, was sie hatten. Sie holten steinalte Vorderlader aus den Kasematten und siehe, die Apparate funktionierten.
Die Ächtung der Arkebusen beseitigte nicht ihre Mechanik.
Antigone von Pechstein fand noch mehr Bilder, um Täufer zu widersprechen. Ihr erschien das Atomzeitalter auch nicht als Endpunkt des Schreckens. Sie brachte bereits die Umweltzerstörung ins Spiel. Sie ordnete auch den Pandora-Büchsenöffner Robert Oppenheimer anders ein als der sich selbst.
„Es gibt Schlimmeres (als Blut an den Händen)“, fand Harry Truman, nachdem er - unangenehm berührt - zum Zeugen eines seelischen Aufbruchs seines Chefatomphysikers Robert Oppenheimer geworden war. Seinem Kammerdiener aka Staatssekretär Dean Acheson befahl er, ihm „dieses Individuum“ fortan vom Hals zu halten. Schließlich habe der Wissenschaftler lediglich das Ding gebaut. „Ich (Truman) habe sie explodieren lassen.“
Robert Oppenheimer plagten Skrupel, nachdem das Schlimmste geschehen ist. Er begriff sich als Weltenzerstörer. Antigone von Pechstein nahm ihn vom Kreuz und an den Haken der Analyse. Oppenheimer habe bloß eine Tür aufgemacht, als Hiwi im Dienst eines Anführers, dessen Bedenken im Mahlwerk der Entschlossenheit pulverisiert wurden. Im Übrigen seien Wissenschaftler:innen* in einem Hohlraum zwischen den sozialen Klassen nicht gut aufgehoben.
Das richtige Wir
Irgendwo sagt Heiner Müller, sobald der Ethnologie Genüge getan wurde, stirbt der erforschte Stamm aus. Auf der anderen Seite dieser Gleichung steht die Idee, Hiroshima habe der Menschheit einen übernationalen Plural eingehaucht.
„Lasst alle Seelen hier in Frieden ruhen, dann werden wir den Fehler nicht wiederholen.“ Sninzo Hamai
Am 6. August 1945 fiel die Bombe auf Hiroshima. Siebzigtausend Menschen starben in der Unmittelbarkeit des Detonationsgeschehens. Der Atomblitz sorgte für bizarre Formate. Hundertsechzigtausend Tote zählte man im weiteren Verlauf, bevor der Schleichtot eintraf. Antigone von Pechstein erinnerte daran, wie ungerührt der erste Atombombenabwurf, kaum verschleiert als Test, in Amerika abgehandelt wurde.
Sieger:innen* kennen keine Reue, und wenn doch, fliegen sie aus dem Verband und das Beste, was ihnen dann noch passieren kann, ist eine solide Krankengeschichte. Ein Beispiel liefert der angeblich bereuende, sogenannte „Hiroshima-Pilot“ Claude Eatherly, der mit der Tat unmittelbar nichts zu tun hatte, wie ein Hauptakteur mit ehrabschneidenden Absichten wiederholt erklärte. Colonel Paul Tibbets, Pilot des Atombombentransporters Enola Gay, bestand darauf, Eatherlys Bedeutungslosigkeit herauszustreichen. Der Mann habe nichts zu melden gehabt und das sei sein Problem geblieben.
Eatherly war in stationärer psychiatrischer Behandlung (und zudem kriminell auffällig geworden), als ihn der Philosoph Günther Anders zur Stimme des Gewissens hochjazzte. Er machte aus Eatherly den großen Anderen im Verhältnis zu dem dann vielleicht doch nicht so pflichtpedantisch-banal-bösen Adolf Eichmann.
Der eine empfindet Reue, der andere beruft sich auf sein Amt. Das war schon zum Zeitpunkt des publizistischen Coups, den Anders landete, eine verkitschte Konstellation. Beide Personen der Zeitgeschichte äußerten sich unter den Vorbehalten der Selbstdarstellungsvorteile. Zu fragen ist ferner, ob nicht in Anders‘ Ignoranz von Eatherlys Zwielichtigkeit ein Element ungewollter Relativierung verborgen blieb.
Amerikanische Soldaten konnten auch in der Distanz der Zeugenschaft dazu ermutigt werden, die Einsätze über Hiroshima und Nagasaki als Kriegshandlungen zu bewerten, während sich der Holocaust so nicht deuten lässt.
Antigone von Pechstein verwies implizit auf die Schwierigkeiten der Japaner:innen*, in ihrer kalten Kultur das Hiroshima-Gedenken nicht im Ritual erstarren zu lassen.
Kalte Kulturen beobachtet man in weitgehend herrschaftsfreien Gesellschaften, die so weit wie möglich von der industriezivilisatorischen Norm entfernt bestehen. Claude Lévi-Strauss fiel auf, dass stark vereinzelte Ethnien Systeme zur Vermeidung von Veränderungen vital halten. Um degradierende Bezeichnungen aus der Palette der „Primitiven Völker“ außer Kurs zu setzen, wählen Freund:innen* einer gerechten Sprache den Begriff kalte Kultur.
Das trifft zwar alles nicht auf die seit 1853 in einem Nachahmungsfestival furiosen Japaner:innen* zu. Trotzdem fürchtet das offizielle Japan kulturelle Kontaminationen und strebt kulturkalte „Reinheit“ an. Die Vorgabe erzwingt statuarische Formate.
Zusammengeschobene Schulbänke - Szenen aus dem deutschen Herbst
Im CDU-Ortsverein spielten die Eingesessenen, Grundbesitzer, Selbständige gemeinsam mit Habenichtsen Blindekuh. Die Nichtse hatten nichts von ihren politischen Prämissen, so wenig wie viele Trump-Wähler:innen* ein halbes Jahrhundert später.
Die Armen in der CDU hätten genauso gut bei uns in der SPD mitmachen können. Vielleicht hielt Selbsthass sie davon ab. Vor ein paar Tagen lief mir Benno über den Weg. Sein Vater war so ein Verächter der eigenen Klasse. Ich sprach ihn darauf an. Benno lächelte die Psychologie von der Wikipedia-Stange weg. Er hatte bis 2015 in Hongkong gelebt und war als Occupy-Aktivist im Rahmen des Umbrella_Movement zu einer Avantgarde aufgerückt, die inzwischen komplett von der Platte geputzt wurde.
Wer spricht noch von Hongkong? Werden wir in ein paar Jahren das eingegliederte Taiwan genauso von der Erregungslandkarte gestrichen haben?
Wer erinnert sich an Deng Xiaopings Versprechen „Ein Land, zwei Systeme“?
Narrative zur Geschichte Hongkongs beginnen stets mit dem Bild eines Fischerdorfs, aber an den Ufern der Stadt ist die Erinnerung an diese Melodien längst verblasst. Zu Jesus‘ Lebzeiten erntete man im Schärenverbund an der Mündung des Yuejiang Salz und Perlen. Ein chinesisches Tortuga bot sich Briganten als An- und Auslauffläche an. Dann kamen schon die ersten Flüchtlinge, die ein Leben unter mongolischer Herrschaft vermeiden wollten. In der Neuzeit machten Portugies:innen* Hongkong zu einem Außenposten ihres Imperiums, bis sie von den Brit:innen* verdrängt wurden. Hongkong war 157 Jahre britische Kronkolonie.
Meine SPD-Kindheit
Wir saßen an zusammengeschobenen Schulbänken, lauter Männer (und ich) ohne Abitur und Migrationshintergrund. Die Einwanderung war in vollem Gang, doch keiner hatte sie auf dem Schirm.
Der erste Mensch mit Migrationshintergrund im sozialdemokratischen Alltag von Waldau war kein Grieche - und kein Chilene, der Allende persönlich gekannt hatte; es war der ursprünglich korsische Adoptivsohn 1975 zugezogener Genoss:innen*. Andira war ein SPD-Kind, einfach zu prägen nach den Überzeugungen der Nähreltern und trotzdem rebellisch nach seinem eigenen Kopf. Er fiel auf bei allen möglichen Gelegenheiten, er konnte nicht unauffällig vorhanden sein. Man fand ihn hübsch und aufgeweckt. Mein Vater fühlte sich von ihm an Piraten erinnert, die ihm in seiner Kindheit in einem Buch begegnet sein könnten. Vielleicht auch in einem Film. Mein Vater sagte: „Bei dem kann man sich das Messer zwischen den Zähnen gut vorstellen.“
In der Aktentasche meines Vaters lauerte ein Hasenbrot auf mich. Ich würde ihm nicht entgehen.
Alberto tauchte auf. Der Italiener kriegte den ganzen Bella-Napoli-Quatsch ab. Mein Vater hatte vor seiner Hochzeit acht Mal in Italien gezeltet, das Zelt liegt heute noch in seinem Sack im Keller, der zwischendurch Hobby- und Partyraum war. Da stehen Sachen aus dem Haushalt der Mutter meines Vaters, so wie die Vitrine mit dem Plattenspieler. Ich sage nur Capri Fischer.
Ab Zweiundsiebzig fuhren wir jedes Jahr nach Italien.
Alberto kam aus Mailand, arbeitete bei VW, hob Gewichte beim KSV Hessen und trainierte Karate in Maeve von Pechsteins Dōjō. Er hatte das, was mein Vater „eine gesunde Einstellung“ nannte. Er integrierte nicht sich, sondern uns mit überlegener Lebensart und universellem handwerklichen Geschick. Er war ein Geschenk des Himmels in der Ära der Umzüge aus den Mietwohnungen der Siedlung in die Reihenhäuser am neusten Dorfrand. Mit jedem bebautem Acker näherte sich das Dorf der Autobahn. Redete schon jemand über Schadstoffausstoß und Lärmschutz? Ich weiß es nicht mehr.
Migration war kein Thema. Stattdessen drehte sich viel um Terrorismus und Inflation. Auch der kalte Krieg, der jederzeit heiß werden konnte, stand zur Debatte. Uns („der unbelehrbaren Menschheit“) blühte der Atomkrieg. Dazu kamen erste Pläne für eine Bundesgartenschau direkt vor der Haustür des Dorfes.
Ich springe ins Jahr 1977. Auf einen Schlag traten dem SPD-Ortsvereinskreis zwei Lehrer, ein angehender Sozialarbeiter und ein Künstler bei. Nennen wir den Künstler Paul. Seiner Frau gefiel die Siedlung. Das war eine neue Perspektive. Das Paar wohnte in dem halben Hochhaus an der Waldemar Petersen Straße, Paul malte seine eigene Tapete auf Raufaser. Ich konnte einfach vorbeikommen. Paul bot Bier an, seine Frau lächelte. Alles war easy. Auch so konnte man leben. Wer hätte das gedacht.
Pauls Wohnmaschine diente negativen Projektionen. „Der Mist, der in Amerika passierte“, zeichnete sich da angeblich zuerst ab.
Ich beobachtete die ersten Anzeichen kultureller Heterogenität. Andere vernahmen Verdrängungssignale. Jede Abwehr kam zu spät. Auf der Brache zwischen Gesamtschule und Waldemar Petersen Straße entstand eine Siedlung in der Siedlung nach dem Matroschka Prinzip. „Wir“ hatten damit nichts zu tun. Es gab kein gewachsenes Wir vor Ort, in dem die Neusiedler:innen* aufgehen konnten. Der vorangegangenen Neusiedler:innen*kohorte war es nicht gelungen, ein eigenes Kraftfeld zu erzeugen.
Morgen mehr.