Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
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In den Achtzigerjahren vor dem Göttinger Institut für Leibeserziehung. Fotografiert von Mara Neusel. © Jamal Tuschick
Keine Spur von Arbeit
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibt Alexander Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Niedergangselegien und soziale Frosteinbrüche
Subtropischer Regen zwingt das Publikum in die geschlossenen Räume des Steinway Hotels am Ocean Drive von St. Veronique. Der Pazifik liegt vor der Hoteltür und leckt an der Fußmatte. Die Szene changiert zwischen zweistöckigem Gipsputzschick und sozialer Erosion. Leerstand regiert die Gegend.
Bis jetzt endete jeder Boom im Bankrott.
Territorien mit Hollywood-Hochglanz-Potential verelenden weiträumig in Niedergangselegien und sozialen Frosteinbrüchen, um sich dann wieder aufzurappeln und herauszuputzen.
Vom Slum zum elitären Schauplatz und retour. Das Vorübergehende aller Stadien und Erscheinungen reizt Maeve zu einer Bemerkung, die Cole aufhorchen lässt. Es geschieht nicht oft, dass seine Tante die Deckung fallen lässt. Obwohl sie ihn aufgezogen hat, käme er nicht auf die Idee, in ihr eine Ersatzmutter zu sehen. Seine leibliche Mutter starb 1964 gemeinsam mit seinem Vater bei einem Flugzeugabsturz in den peruanischen Anden.
In einer keineswegs besonders abwegigen Lesart brachte Maeve es fertig, ihr Mündel im zarten Alter von sieben Jahren in Asien ausgesetzt. Sechs Jahre verbrachte Cole als Novize und Kampfkunstlehrling im Dunstkreis verstiegener Asket:innen* und rauschaffiner Senseis und Sifus in Japan und China.
Cole beobachtet bei Maeve Anflüge von schlechter Laune und eine Unausgeglichenheit, von der sonst niemand etwas weiß. Ihrem Gefolge präsentiert sie sich als als salomonische Persönlichkeit ohne Fehl und Tadel. Auf Maeve trifft zu, was Martin Miller seiner Mutter Alice vorhielt: Sie half allen, nur nicht ihrem Sohn.
Erziehung ist schädlich. Mit dieser Ansicht reüssierte Alice Miller in der antiautoritären Ära. Ihr Drama des begabten Kindes traf weltweit einen pädagogischen Nerv. Die Psychoanalytikerin beschrieb ein Dilemma: Das Kind versucht eigene Gefühle mit elterlichen Erwartungen zu synchronisieren. „Es versteht perfekt, was von ihm erwartet wird.“ Es unterdrückt seine Bedürfnisse, nimmt „irreale“ negative Bewertungen an und kriegt beizeiten Krebs oder Depressionen oder eine grandios-verdrehte Selbstwahrnehmung. Alice Miller forderte ein neues Verständnis für Kinder. Man müsse sich in sie hineindenken. Allerdings war sie als Mutter dazu selbst nicht in der Lage.
Ich greife vor - Aus einem Protokoll von 2014
Das behauptet Martin Miller. Er spricht über transgenerationelle Weitergabe von Traumata. Die Belastungen seiner als Jüdin im besetzten Polen verfolgten Mutter seien an ihn unbewusst weitergegeben worden. Seine Mutter habe über den Holocaust nicht gesprochen, da war sie: die Schweigemauer. Der Sohn akzeptierte das Tabu. Doch Alice Miller wusste nicht, warum sie das Kind in ihrer Kälte ablehnte. Dass sie Unerträgliches in ihrem Sohn deponierte und dort mit Ablehnung bekämpfte – genauso wie sie es später bei anderen erkennen sollte. Ja, die besten Schneider:innen* tragen die schlechtesten Anzüge.
Martin Miller spricht über solche Projektionen absichtsvoll einfach: „Ich erlebte den seelischen Schmerz meiner Mutter wie im Blindflug. Es war nicht schön, der Sohn von Alice Miller zu sein.“
Das wird variiert: „Ich habe meine Mutter kaum gekannt.“ „Ich habe mich nicht gut mit meiner Mutter verstanden.“ Alice Miller brachte sich um. Ein Grab wollte sie nicht, „aus Angst vor nazistischer Schändung“. Miller deutet die anonym gestreute Asche der Mutter als postmortalen Kontrollvorgang. So wollte sie sich über den Tod hinaus allen Verfolger:innen* entziehen. Daraus folgt, dass sie eine Verfolgte geblieben ist, zumindest in der Wahrnehmung des Sohnes. Der arbeitet als „Couch“, er spricht versiert wie ein Kapitän auf Butterfahrt. Ich schreibe mit: „Grundsätzlich wurden „Holocaust-Kinder“ von ihren Eltern „sehr vereinnahmt“, in Prozessen der Umkehrung der Eltern-Kind-Relationen.
Miller redet über Konsequenzen „seelischer Selbstmorde“ für nachkommende Generationen – gezeugt und aufgezogen von Zombies. Auch seine Mutter habe „sich als junge Frau in Polen umbringen müssen, um weiterleben zu können“. Unter dem NS-Verfolgungsdruck verwandelte sie sich in eine nichtjüdische Polin. Die totale Selbstverleugnung nahm ihr viel Lebendigkeit: „Alles, was sie verraten konnte, musste abgespalten werden.“
In den 1970er Jahren
Maeve nahm in ihrem Verhältnis zu Cole Maß an ihrer eigenen Mutter. Die kaltblütig-kühle Antigone von Pechstein verbrachte ihre akademische Blüte als Vulkanologin auf Kyūshū in der Präfektur Miyazaki. Nach einer Legende herrschte da die erste japanisch gelesene Königin oder fürstliche Schamanin Himiko, abgeschirmt von tausend Dienerinnen. Im Mittelalter florierten auf Kyūshū koreanisch inspirierte Porzellanmanufakturen. Eine breitflächige Christianisierung führte 1637 zu einem Bauernaufstand, der Shimabara-Rebellion unter Masuda Tokisada, den seine Gefolgsleute als eine Art Jesus ansahen.
Grandiose Kaldera-Formationen prägen die Landschaft. Die erdgeschichtlichen Verwerfungsexzesse liefern malerische Kulissen für schlagartige Entvölkerungsprozessionen. Tourist:innen* ergötzen sich am Verfall. Sie klappern Ruinen ab auf dem Shōwa (Hügelgrab)-Boulevard. Die Shōwa-Ära hält in der Handlungsgegenwart an, entspricht sich doch der Regierungszeit von Tennō Hirohito.
Sozialer Kredit
Zwischen mondän und moribund - Antigones Töchter Maeve und Ruth wuchsen im Bann eines klandestinen Karatekults auf. Maeve ging weiter als ihre Schwester und erlebte den ersten インドア-Initiationsgrad an ihrem neunzehnten Geburtstag. Ihre Meisterin lobte Maeve als weiße Japanerin. Beide hielten das für ein großartiges Kompliment. Zwei Jahrzehnte spielte der nordhessische Background keine Rolle. Kaum war Maeve im Tross der unnahbaren Mutter wieder in ihrer Geburtsgegend gelandet, verrührte sie japanische mit regionalen Motiven zu einem exotischen Marketingmix. In diesem Rahmen passte Kassel zu Karate, und Karate zu einem Momentum guter Nachbarschaft. Während Maeve 1973 ihr Dōjō aufbaute …
… plötzlich bauten alle. Leute, die ein paar Jahre zuvor noch von jeder Eigentumsbildung ausgeschlossen gewesen waren, starteten nach der Fälligkeit des zweiten Bausparvertrags bauherrlich durch. Befreundete Familien setzten ihre Häuser außerhalb der Stadt prunkvoll auf weitläufige Areale. Meine Eltern dachten an ihre Zukunft als altes Ehepaar mit idealer Verkehrsanbindung und dem Supermarkt vor der Haustür. Ihre Erwartungen folgten der sozialdemokratischen Machbarkeitslogik.
Guten Tag, mein Name ist Keno Teichmann. Ich gehöre zu Maeves Schüler:innen* der ersten ユース世代.
Auf dem Weg zu bescheidenem Eigentum rückten meine Eltern nicht nur räumlich an das Dorf, zu dessen Siedlungsparias wir lange gehört hatten. Es ergab sich ein neues Zugehörigkeitsphantasma, bei dem unsere Underdog-Vitalität dem Dorf zukam.
Politische Zungenküsse
In der erotischen Nachwuchsarena trennte sich die Spreu vom Weizen sofort. Die Schönsten und Besten bildeten die attraktivsten Paare. Dahinter stellten wir uns an, vereint im „Wir“ der Unzulänglichen. Jeder kriegte seine Portion auf den Teller geknallt. Ich wurde von einer angehenden Sozialarbeiterin, die zur Hausaufgabenbetreuung bestellt war, aus dem Wettbewerb genommen. Maria kam aus einer Familie, die seit Friedrich II. Staatsaufgaben erledigte. Maria lehnte ihr preußisches Erbe ab. Sie hielt auch nichts von Hausaufgaben. Stattdessen spielte sie mit den Schüler:innen* Flaschendrehen. Sie war mit dem sorglosesten Vergnügen an der Verletzung ihrer Pflichten beteiligt. Ihre Handlungen hielt sie für subversiv. Sie verknallte sich ein bisschen in mich, gerade genug, um mir Hoffnungen - und mich gleich nach meiner Initiation eifersüchtig zu machen, wenn sie vor meinen Augen einen Kommilitonen küsste, der die Schulsozialarbeit genauso ernst nahm wie sie. Mit dem denkbar geringsten Einsatz trug Maria mehr zu meinem Klassenbewusstsein bei als alle anderen Erfahrungsspender:innen. Mit der Lässigkeit der herrschenden Klasse wilderte Maria gewisse Aspekte ihrer Persönlichkeit da aus, wo sie sich vor Zeug:innen* sicher wähnte. Es gab aber keine größere Tratschbude als unsere Schule.
Verlorene Siege
Den Einmarsch zaristischer Infanterie in ein deutsches Dorf beschreibtAlexander Solschenizyn als Triumphzug der Verwunderung. Man findet ein Fahrrad, und ein ganzes Bataillon staunt „das Wunderding“ an. Gemauerte Ställe und betonierte Brunnen erregen die Gemüter uniformierter Bauern. Nichts fliegt herum. Alles ist in Ordnung. Es gibt sogar elektrische Straßenbeleuchtung.
„Wie bringen die Deutschen es fertig, ihre Wirtschaft so zu besorgen, dass keine Spuren von Arbeit zu sehen sind?“
Die fast tödlich Ermatteten haben Polen zu Fuß durchquert, „dort ließ man die Zügel schleifen, aber hinter der deutschen Grenze war alles wie verwandelt“.
Die Marschierer pendeln zwischen Ehrfurcht und Grauen durch Ostpreußen. Ihr Verdruss ist ein Fass ohne Boden. Vor der schlurfenden Invasion zieht sich die Bevölkerung wie an einem Band zurück. Die ersten, die glauben, sich zeigen zu dürfen, werden wie Spione behandelt. Für eine genauere Untersuchung fehlt die Kraft.
Ausgehobene verfluchen die ehrgeizigen Kosaken. Die Kavallerie erschöpft nichts. Ständig provoziert sie Scharmützel.
Jeder geschotterte Weg ist eine Chaussee.
Die Gegend ändert sich, bis nur noch Wald die Wege säumt. Unbekanntes Gelände ist eine Sache, in einem fremden Wald kämpfen zu müssen, eine andere. Die Fußkranken fürchten das Varus-Schicksal, ohne es zu kennen. Sie erwartet die Niederlage von Allenstein, die als „Schlacht bei Tannenberg“ historisch wurde. Die Falschbenennung sollte eine deutsche Niederlage des 15. Jahrhunderts tünchen, die dem polnischen und litauischen Nationalstolz Nahrung gab.
Das erklärte uns Frischmüller, ich weiß den Vornamen nicht mehr, an einem Samstagvormittag im Herbst 1978 in der Tagungsstätte auf dem Hohen Dörnberg. Der Referent suchte das Interesse seines Publikums an der falschen Stelle. Die Jungsozialist:innen* wollten siegreiche Russen. Frischmüllers Versuch, uns mit dem Sujet der verlorenen Siege vertraut zu machen, scheiterte an der Zuversicht jugendlicher Genoss:innen*, die von der Unumkehrbarkeit des Geschichtsverlauf zu Gunsten ihrer Ideale überzeugt waren.
Wer die Deutungsmacht besitzt, stellt die Weichen. Das war Frischmüllers Lektion. Der deutschen Generalität gelang es mit einem Propagandacoup den polnisch-litauischen Sieg von 1410 in den Schatten zu stellen. Es folgte eine effektive Deklassierung Polens als Pappkameraden zwischen Kaiser und Zar.
Frischmüller gehörte zu der Generation, für die der Marsch durch die Institutionen (lange vor den Achtundsechziger:innen*) so selbstverständlich war, dass sie davon keinen Begriff entwickelt hatten. Nun sah Frischmüller sich mit einer Entwicklung konfrontiert, die in Subkulturen und auf Außenbahnen führte. Austeiger:innen* verzichteten freiwillig auf gesellschaftliche Teilhabe. Sie schlossen sich selbst aus, wie zum Hohn jener Ohnmächtigen vergangener Tage, deren Nachkommen wir waren.
Sektierer:innen* waren Verlierer:innen*. Sie arbeiteten der Reaktion in die Hände. Darin sah Frischmüller (so wie mein Vater) die größte Gefahr. Mein Vater predigte die Politik des kleineren Übels. Der Nachwuchs sah die Welt mit anderen Augen. Es durfte nicht sein, dass wir nur mit einem Kanzler regieren konnten, von dem es hieß, er sei in der falschen Partei. Schmidts schneidig.distanzierte Art, er war ein Genoss:innen*-Siezer, wirkten auf viele Jungsozialist:innen* abstoßend. Der hochmütige Auftritt sicherte ihm mehr Akzeptanz auf der Gegenseite (und heizte Prozesse an, die zur Gründung der Grünen führten).
Was haben wir von der Macht, wenn wir keine sozialdemokratische Politik machen können, ohne den Kanzler zu verlieren. Das fragten sich Leute, die sich Sozialist:innen* nannten und die Mutterpartei hart angingen.
Noch war die Bombe des Tages nicht geplatzt. Keine Tagung ohne Tränen.
Morgen mehr.