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2022-09-10 07:20:26, Jamal

Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.   

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In den 1990er Jahren auf der Koppel © Jamal Tuschick

Viele hatten nach Holgers Anweisungen gelernt, sich im Wald zu bewegen, aber nur in mir war das Verlangen gewesen, mit der Nacht und ihren Schatten zu tanzen. In unserer Nachbarschaft sangen Falken ein Lied der kubanischen Revolution - Hasta Siempre Comandante. Aprendimos a quererte ... Che Guevara war der schönste Held. Die Jugendarbeit war sozialistisch und weit weg von den Leitlinien der erwachsenen SPD. Den Falken erschien Schmidt als Fremdkörper und Parteizerstörer. Se despierta para verte ... Der Nachwuchs chilenischer Exilant:innen* sang richtiger als der Rest. Ein Jahr nach Allendes Sturz hatte die Nelkenrevolution stattgefunden und wir waren alle Portugies:innen* gewesen.

Als die Mudschaheddin noch die Guten waren

Die erste Tagungskatastrophe begann mit einem Blechschaden; verursacht von einem Fahrer ohne Führerschein. Der widerrechtlich geführte VW-Variant gehörte dem Freund einer Tagungsteilnehmerin, die politisch nicht gebunden war. Nennt sie Silvia. Silvia hatte Jürgen ans Steuer gelassen. Sie war in Jürgen verliebt, aber mit Variant zusammen. Variant studierte Maschinenbau, verbrachte seine Freizeit in Kneipen und gehörte zu einer Horde Anti-Intellektueller, die mit ihrer Grobschlächtigkeit prahlte. Das waren aus westfälischen und niedersächsischen Kleinstädten Zugezogene, ich denke gerade an Paderborn und Höxter. Sie kultivierten abseitige Vorlieben für lokale Bands, Geschichten in einfacher Sprache und Kreisligaereignisse. Einer besaß einen Schrebergarten, das war ein Abweichungsgipfel. Manche übten handwerkliche Berufe aus, unverbunden mit den Abitur-Gärtner:innen* und -Schreiner:innen*, die das Programm der Grünen vorwegnehmend auf der Verzichtschiene unterwegs waren.

Kein Variant übte freiwillig Verzicht. Die meisten waren mit Anfang Zwanzig aufgeschwemmt, konditionsschwach und trotzdem von sich so eingenommen wie die Spitzenkräfte der Subkulturen.

Zwischen Variant und Jürgen klaffte es gewaltig. Wie kam dieses Dreieck zustande? Wieso war Silvia mit Variant zusammen? Variant hatte Silvia das Auto, Silvia Jürgen das Steuer überlassen. Jürgen hatte den Volvo von Freimuts Vater auf dem Parkplatz der Tagungsstätte touchiert. Ein emotionaler Blowout trieb die Mannschaft und ihre Empfindungen ins Freie. Die vierzig Tagungsteilnehmer:innen* schlugen sich wie ein Mann auf Jürgens Seite. Niemand warf ihm Leichtsinn vor. Keiner ließ sich über seine Fahrtüchtigkeit aus. Man verlangte von Freimut, bei der Schadensmeldung Silvia als Fahrerin anzugeben. Das Politische war privat, und Jürgen war einer von uns.

Wir bemerkten den Wanderer erst, als er sagte: „Ich habe alles mitangesehen.“   

Heimlicher Käse

Unter der Woche reichte die Katzenwäsche. Wasser war mit Vorsicht zu genießen. Wasser tat der Haut nicht gut. Selbstgemachte Marmelade hatte einem besser zu schmecken als gekaufte. Die eingelagerten Äpfel und Kartoffeln schmeckten vor ihrer Neige im Frühjahr nach bitterer Not und ließen sich nur mit schwersten Ermahnungen und Hinweisen auf den Kohldampf der Kriegskinder herunterwürgen.

Blumenkohl in Fett geschwenkt. Zu den Schlössern der Armut meiner Kindheit zählten die Vorfreuden auf den Urlaub. Sobald die Reise losging, schwand die Freude. Alles wurde rationiert und portioniert. Schokolade musste man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schmeckte nach mehr. Phonetischen Koinzidenzen mehr - Meer, Beeren - Bären beglückten meinen Vater.

Wir hatten alles dabei. Auch einen Campingkocher. Deshalb gab es Blumenkohl fast roh statt Pizza. Es gab ihn nicht ohne den Zusatz gesund.  

Im Auto gab es schon mal gar nichts.

Wir waren verwöhnt. So verwöhnt, dass ich mir von selbstverdientem Geld einen Lauterbacher Strolch Camembert kaufte, nur um einmal über den bloßen Hunger hinaus - das ist nur noch Appetit - Käse zu essen. Die heimliche Zufuhr war ein Vertrauensbruch.

Dann kam die Freiheit der Jugend. Plötzlich war ich vorn mit dabei, wenn auch nur in Kassel, wo sich die Vergangenheit länger hielt als anderswo. Kassel war die letzte Stadt vor der Grenze. Unsere Verwandten in Eisenach lebten in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Verwandten der anderen lebten in der ‚Ostzone‘.

Unser Chef-Pfadfinder, Kunstlehrer und Jusovorsitzender Holger Kühne sagte manchmal ‚Ostzone‘. Manchmal fand er Worte der Anerkennung für den realsozialistischen Staat. Es kam darauf an, ob er als Pfadfinder:innen*- oder als Jungsozialist:innen*führer zu uns sprach. Für mich war die Differenz lange undurchschaubar, obwohl mir bizarre Meinungsmischungen vertraut waren. Mein Großvater nahm in seinem persönlichen Programm die Grünen vorweg, war aber auch Monarchist. 

„Das Dichten darf nicht aufhören“.

Mit diesem Appell von Peter Suhrkamp aus der Frühzeit der alten Bundesrepublik begann ein großer Gesang des SPD-Apachen Holger auf dem „Erlebnisberg“ Hoherodskopf im Vogelsberg. Gezogen von der traurigsten Mähre der Gegend, rumpelten wir in einem lächerlichen Prärieschonernachbau über den Vulkan. Auch der Kutscher sah nach Mistwetter und Alkoholnebel aus, aber auch nach einem verschwiegenen Glück im sozialen Unterholz. Madeleine studierte Soziologie in Frankfurt am Main, Adorno und Horkheimer zu Ehren. Sie war fünf Jahre älter als ich und prunkte mit ihrem Seminar- und Wohngemeinschaftsvokabular. Wir waren in Kassel zu ahnungslosen Adept:innen* der Frankfurter Schule geworden; nicht zuletzt deshalb, weil unsere sozialdemokratischen Eltern über Brecht und Biermann nicht hinauskamen. So konnte man die intelligente Reaktion nicht kontern. Mein humanistisch gebildeter Deutschlehrer vertrat den Standpunkt, dass eine Hochkultur ohne Sklav:innen* nicht zu haben sei. Er führte Mesopotamien, Griechenland und Rom an, um uns Beispiele zu geben. Er sprach von Prädestination und Destination. Der Radikalenerlass fand auf ihn trotzdem keine Anwendung.

Holger zog ein Bein nach, er sah aus wie ein ramponierter Steve McQueen. Er war in Kämpfe mit Toten, Verletzten und Zerstörten auf zwei Kontinenten verstrickt gewesen. Der politische Anstrich hatte eine private Angelegenheit getüncht. Das Private war in der Gegner:innen*strategie untergegangen und nie mehr aufgetaucht.

In Amerika kostete der Kampf einem Mann das Leben, der für das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in Baton Rouge gearbeitet hatte. 

Was hatte Holger damit zu tun? Dazu morgen mehr.