Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.
In den 1970er Jahren in Kassel © Jamal Tuschick
“To reach me, you must move to me. Your attack offers me an opportunity to intercept you.” Bruce Lee
*
The art consists in being able to decompress your joints under pressure. If you can do so, you’re allowed to ask your opponent for more pressure. Give me as much pressure as you like; I turn your blow into my flow. © Jamal Tuschick
*
“When there is freedom from mechanical conditioning, there is simplicity. The classical man is just a bundle of routine ... if you follow the classic pattern, you don’t understand yourself." Leicht modifizierter Bruce Lee
Mir fehlte nichts in Kassel. Ich lebte gern in Nordhessen. Irgendwann verloren die familiären Instanzen ihren Riegelcharakter. Ich lernte, die sozialdemokratische Litanei meines Vaters und die Supermarktesoterik meiner Mutter zu ignorieren. Ich ging auf Abstand zu meiner Mentor Holger Kühne, der mein Sport- und Kunstlehrer war, aber auch Juso-Vorsitzender, Pfadfinderführer und Turnvater. Wo ich schaltete, da waltete er.
Politische Zungenküsse
Holger war der Hessenmeister schlechthin, obwohl aus Franken gebürtig. Für uns also ein Bayer. Jahrzehnte hielt er Rekorde in so bizarren Disziplinen wie Steinstoßen und Duck Walk. Er sorgte dafür, dass unsere Schule einen Kraftraum kriegte. Die Folterkammer war mein Wohnzimmer.
Holger geleitete mich in Regionen des Muskelfetischismus. Während ich keulte, fand beinah nebenan die Schulsozialarbeit im Rahmen der Hausaufgabenbetreuung als ein permanentes Überschreitungsfestival statt. Studierende animierten Schüler:innen* zum Flaschendrehen. Beherzt nahmen sie selbst teil. Das veranlasste mich zu Ausflügen über den Flur. Besonders aufregend war es, wenn mir die angehende Sozialarbeiterin Maria von W. unverfroren an die Wäsche ging.
Erwünschte Aufdringlichkeit
In der erotischen Nachwuchsarena trennte sich die Spreu vom Weizen sofort. Die Schönsten und Besten bildeten die attraktivsten Paare. Dahinter stellten wir uns an, vereint im „Wir“ der Unzulänglichen. Jeder kriegte seine Portion auf den Teller geknallt. Ich wurde von einer angehenden Sozialarbeiterin, die zur Hausaufgabenbetreuung bestellt war, aus dem Wettbewerb genommen. Maria kam aus einer Familie, die seit Friedrich II. Staatsaufgaben erledigte. Maria lehnte ihr preußisches Erbe ab. Sie hielt auch nichts von Hausaufgaben. Stattdessen dreht sie mit uns Flaschen. Sie war mit dem sorglosesten Vergnügen an der Verletzung ihrer Pflichten beteiligt. Ihre Handlungen hielt sie für subversiv. Sie verknallte sich ein bisschen in mich, gerade genug, um mir Hoffnungen - und mich gleich nach meiner Initiation eifersüchtig zu machen, wenn sie vor meinen Augen einen Kommilitonen küsste, der die Schulsozialarbeit genauso ernst nahm wie sie. Maria trug mehr zu meinem Klassenbewusstsein bei als alle anderen Erfahrungsspenderinnen in den frühen Versuchsreihen. Mit der Lässigkeit der herrschenden Klasse wilderte Maria gewisse Aspekte ihrer Persönlichkeit da aus, wo sie sich vor Zeug:innen* sicher wähnte. Es gab aber keine größere Tratschbude als unsere Schule.
*
Holger sah aus wie Ernst Fuchs. Er verhehlte einen Geltungsdrang als bildender Künstler, jedenfalls solange er nüchtern war. Die meisten hielten ihn für einen politischen Kopf; für eine Macherfigur im linken Spektrum.
Bei Holger klaffte alles Mögliche gewaltig. Der Superpädagoge mit einer geradezu ikonografischen Vorbildfunktion verfluchte im kleinen Kreis sein Lehreramt.
Warum kündigte er nicht?
Wer mit dem Augenschein vorliebnahm, kam nicht weit. Mich erachtete Holger als Ziehsohn. Ich sonnte mich in der Rolle mit all ihren Zugangsberechtigungen, bis ich in Holger nur noch den verbrauchten Liebhaber von knapp volljährigen Gymnasiastinnen sah. Heute liegt seine Lächerlichkeit so offen zu Tage, dass ich mich wundere, warum sie damals kein Thema war. Vor meinem geistigen Auge sitzen die Debütantinnen - im Vollrausch ihrer Jugendblüte - immer noch in seiner Küche und empfinden Aufregungen, die für sie bald kalter Kaffee sein werden.
Redliches Liebestraining
Vermutlich wollte Maria lediglich einen halbversteinerten Tropf aus der Reserve locken. Vielleicht reizte sie auch der taktile Kontakt mit dem Basrelief meines Bauches. Ich kannte den Wunsch, mich da zu berühren, wo viele sich selbst Schwachpunkte attestierten. Auch Lisbeth reagierte unmittelbar auf meine sportliche Figur. Das war ganz klar ein Pluspunkt. Mundgeruch und Blähungen von notorisch miesem Essen, Popel, die aus der Nase hingen, miefende Achselhöhlen, weil nur Frauen Deo benutzten, aufsteigender Fußschweißgestank, für Ganzkörperpflege fehlten die Antennen: darüber ließ sich hinwegspekulieren in Anbetracht eines Guthabens aus geraden Gliedern.
Die Bereitschaft zur Nachsicht und Ungenauigkeit war verbreitet. Es saßen ja alle im Glashaus. Niemand war perfekt. Wer ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein. Mich rührt und erschüttert wie durchgreifend die Erziehung zur Mäßigung war, wie fein die Zahnradkränze der Abrichtung aufeinander abgestimmt waren. Das war doch immer nur der Spatz in der Hand. Und doch entdeckte ich in meiner Großcousine Lisbeth eine wohlwollende Partnerin im ersten, zweiten und dritten Durchgang des Ringens um Erfüllung.
When your home becomes a Dōjō
Gemeinsam praktizierten wir Wohnzimmerkarate. Die Diversifikation meines Unterrichts in der Karateschule Pechstein beschränkte sich nicht nur auf Lisbeth. Obwohl bloß Blaugurtträger, hatte ich noch einen Schüler. Biber war ein Selbstläufer. Er entschied, was stattfand. Die Weisheit seiner Entscheidungen offenbarten sich mir später. Lisbeth fehlte Bibers intuitives Begreifen. Sie suchte in den Techniken einen Ausdruck ihrer Ungebundenheit an die Waldauer Spielregeln. Sie besaß die innere Freiheit, den Ritus theatralisch zu deuten. Ich sollte sie graduieren, und so graduierte ich sie erst zur Gelbgurt- und dann sogar zur Orangegurtträgerin in karate-blasphemischen Ritualen. Ich beging ein schweres Sakrileg.
Ich lud Schuld auf mich, um Lisbeth zu erheitern. Im Gegenzug lieferte sie die notwenigen Informationen für meine adoleszente Graduierung. Lisbeth leitete meine Beförderung zum Liebhaber von Iris Leise ein. Die Zuneigung der gnadenlos beliebten, auf allen Hochzeiten tanzenden, künftigen Einser-Abiturientin Iris war für mich der Ritterschlag, nach dem ich lechzte. Wegen Iris vernachlässigte ich nicht nur Lisbeth, sondern auch Madeleine Wieland, die mich in einer Art Hauptnebenrolle besetzte. Madeleine avancierte bald zur Uschi Obermaier der Frankfurter Spontis. Unser Spiel fand im letzten Moment vor ihrem Abflug in die weite Welt statt.
Irgendwann rief Lisbeth nicht mehr an. Stattdessen hieß es, die Iris Leise hat angerufen. Du sollst sie zurückrufen, es ist aber nichts Dringendes. Eines Tages erreichte sie mich direkt. Sie rief beinah aufgeregt: „Jetzt weiß ich deine Telefonnummer auswendig.“ Trotzdem war ich nur ihre Nummer Vier.