Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
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Um 1990 auf der Koppel © Jamal Tuschick
„Wer einen mageren Leib hat, trägt gern ein ausgestopftes Wams, und denen, welchen die Materie schwindet, schwellen die Worte.“ Michel de Montaigne
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Mit günstigen Krediten zog Peisistratos das Prekariat aus Athen in die Landwirtschaft. Der gute Tyrann machte Lungernde erwerbstüchtig und hielt sie auf ihren Ländereien fern der Politik. In der Vergrößerung ihrer Vermögen vermuteten sie einen größeren Vorteil als in ihren Bürgerrechten. Peisistratos liefert ein Beispiel für die Erledigung der Politik in der sozialen Frage.
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„Gott sei Dank habe ich genug Fuck-you-money verdient, um nur noch aus Leidenschaft zu arbeiten.“ Helmut Newton
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Schöner schreiben am Lago Maggiore © Jamal Tuschick
Schöner schreiben am Lago Maggiore © Jamal Tuschick
Berlau und Biermann
Wie Wolf Biermann über Ruth Berlau spricht, die er erst trifft, als sie „schon ein alkoholisiertes Wrack“ ist, erfüllt die Bedingungen schicksalhafter Bedeutung. „Die alte Frau“ ist knapp über fünfzig. Vor ihrem Fenster steht auf dem Karlsplatz eine von Brecht in die Lyrik gebrachte Pappel. „Der große Lehrer“ hatte Berlau ausgemustert, als er zum Schreiben seiner Stücke keine Zuarbeiterin mehr brauchte. Da er keine Stücke mehr schrieb. Nun ist Brecht tot, und Berlau versucht so ein bisschen brechtig-besenreißerisch Biermann zu ihrem Adlatus zu machen. Biermann erlebt die Zeit am Berliner Ensemble als „rationalen Rausch“.
Jeder weiß, wo Biermann seinen lyrischen Vogel, diesen greisen Geier, herhat. Der Künstler als junger Mann idealisiert die reizende, von dem mörderischen Lyriker Lacenaire, dem Pantomimen Debureau, dem Schauspieler Frederic und dem Adeligen de Monteray verehrte Garance in Kinder des Olymp. Die Szenen des Glücks im hauptstädtischen Winkel der Deutschen Demokratischen Republik erreichen die cineastische Grazie des Films von Marcel Carné.
Stasi-Tiefausläufer
Es sollte nie einer von der Rücknahme erfahren. Unter dieser Bedingung erklärte sich Heiner Müller der Stasi gegenüber bereit, zu widerrufen. Siehe Brechts „Leben des Galilei“.
Man sei kurz nach Neunundachtzig auf einer Frankfurter Messe zufällig aufeinandergestoßen, noch im Einzugsbereich von Stasi-Tiefausläufern, um alle „Probleme endgültig zu beschweigen“. Schließlich habe Müller, die Zigarre im Anschlag, die Distanz zu Biermann verkürzt und mit einer vom Nikotinatem verseuchten und vom Rauchen brüchigen Stimme gemunkelt:
„Wolf, es gibt auch ein Menschenrecht auf Feigheit.“
Im Referatspräsens
Ein Abend mit Wolf Biermann während der bundesrepublikanischen Steinzeit. Betäubt von den Parfümangriffen ihrer Nachbarinnen, sackt Blandine von Hainbach in der Zuschauer:innen*zone zusammen. Ihr fällt ein, dass ein Poster von Tom Jones zur Freude ihrer Tante Katharina im Hobbykeller am Mauerwerk klebte, so dass der Waliser mit dem Testosterontenor wie ein Schiedsrichter über die zahllosen Tischtennismatches zu wachen schien, die Tante Katharina, einst Ostwestfälische Meisterin, bis zum bitteren Ende stets gewann.
Vinyl-viril
Wolf Biermann erfüllte Aufgaben in der DDR, „als die Baracke noch fröhlich war“ (Manfred Krug), die im Westen (im Handlungs-Jetzt) nach wie vor Tom Jones erledigt. Jones und Biermann verkörpern den Künstler in viril. Interessant findet Blandine, dass sich der Barde, den neuen Spielregeln zum Trotz, als Hecht im Karpfenteich weithin zu erkennen gibt und seine Eroberungen im Safaristil schildert.
„Diese Frau war einfach der saftigste Pfirsich, den ich je gepflügt hatte … Ich zappelte als Fisch in ihrer Reuse.“ O-Ton Wolf Biermann
Warum stößt dieser Ramschsound außer uns keiner/keinem sauer auf?
Am Rabenhorst/1992
Sie liebt den Nebel, die Unschärfe, eine unklare Geografie. Blandine führt das Leben einer Verstimmten. Die zweiunddreißigjährige Historikerin (und Erbin eines Immobilienimperiums von rund hundert Häusern in unspektakulären Lagen) wähnt sich am Ende ihrer Geduld mit der schnöden Welt. Hinter den sieben nordhessischen Bergen schwelgt Blandine in romantischen Valeurs.
Am Rabenhorst lautet ihre malerische Anschrift.
Ständig treiben Schaum, Traum und Nebel in Blandines Semi-Soliloquium auf. Keno Teichmann, inzwischen 3. Dan, weiß, wohin die Reise geht, wenn jemand die eigene Verflüchtigungssehnsucht überhaupt nicht zu bemerken scheint.
An der Stelle waren wir vorgestern schon einmal. Munitioniert von Adorno, verspottete Lien Beauregard Epigoninnen*, die ihr Ideal in der Heidegger‘schen Wald- und Wieseninnerlichkeit erkennen. Erheischende Empfindsamkeit geht auch Keno gegen den Strich.
Von Biermann kein Wort. Blandine verbucht den Vorabend mit Gesang und Gedöns als Schlag ins Gesicht ihres guten Geschmacks.
Zurückhaltung steht an vierter Stelle auf Kenos Verhaltensliste. Er ist nicht siebzig Kilometer durch die Pampa gefahren, um seine reichste Privatschülerin zu verprellen. Noch hat er nicht genug „Fuckyoumoney verdient, um nur noch aus Leidenschaft zu arbeiten“ (Helmut Newton). Keno erstickt den Wunsch, Bruce Lee zu zitieren: “In life, what more can you ask for than to be real? To fulfill one’s potential instead of wasting energy on (attempting to) actualize one’s dissipating image, which is not real and an expenditure of one’s vital energy.”
Vielleicht täuscht Blandine Indolenz vor. Womöglich sichert sie mit der Vorspiegelung einer seelisch Halbgelähmten ihre bourgeoise Position. Sie wohnt nicht schlecht in ihrem Forsthaus am Rand der Welt und voll im Wald. Blandine zitiert aus den (auf das Jahr 1887 datierten) Aufzeichnungen eines ihrer Vorfahren. Der Blechfuturismus in den Illustrationen zu Romanen von Jules Verne spricht sich in jeder Zeile aus. Im Jahr der Niederschrift trug sich die Schlacht bei Dogali zu. Da trug sich die Ungeheuerlichkeit zu, dass Schwarze Weiße schlugen. Das Ergebnis ließ sich Europäer:innen* nicht objektiv vermitteln. Zeichnungen in französischen Magazinen zeigen den kaiserlichen Heerführer Menelik II. als Weißen im Strahlenkranz.
Der akademische Diskurs marginalisiert das historisch singuläre Ereignis bis heute. Äthiopische Truppen besiegten ein italienisches Expeditionsheer. Das Ereignis entfaltete Signalwirkung bis in die Karibik.
Es gab das kaiserliche Gelöbnis, eine Kathedrale zu bauen und sie dem heiligen Georg zu widmen im Fall des Sieges. Den Tabot weihte man auf einem Schlachtfeld. Italienische Kriegsgefangene übernahmen die Bauarbeiten. Wer weiß so etwas?
Blandine trägt einen von Yohji Yamamoto angeblich persönlich maßgeschneiderten Keikogi. Keno kehrt mit ihr dahin zurück, wo er nur in Ahnungen schon einmal war: zu den Anfängen des Karate. Jahrhunderte dienten die Vorläuferinnen des Karate ausschließlich der Selbstverteidigung. Die Lösungen funktionierten. Anderenfalls gäbe es keine Traditionslinie bis in die Gegenwart. Die Pionier:innen* des Okinawa Te gehörten nicht zum Krieger:innen*adel.
Karate ist von jeher kein Derivat herrschaftlicher Devisen.
Vielmehr waren die ersten Karateka* mehrfach deklassierte (Stichwort: Intersektionalität) und von Mangelerscheinungen geschwächte Bäuerinnen* und Bauern*, die nicht das Recht hatten, sich konventionell zu verteidigen. Sie salzten den gesellschaftlichen Bodensatz mit ihrem Schweiß, und sie hatten die denkbar schwersten Feind:innen*: beritten, bewaffnet und befugt. Armiert an Leib und Seele. Staatlich und halbstaatlich autorisiert.
Daraus ergibt sich die Einsicht, dass man keinen Status braucht, um zu kämpfen.
Keno erzählt Blandine von schlecht genährten, gichtigen, weitgehend entrechteten Bäuerinnen*, die gegen hochmütige Schwertkämpfer:innen* antraten.
Keno und seine Karatemärchen. Das ist ein Kapitel für sich.
„Nimm den Doppelschnitt als Beispiel. Wir führen die Klinge …“
When your home becomes a Dōjō
Karate bedarf abgehärteter Glieder. Blandine und Keno trainieren an einem Makiwara Marke Eigenbau. Von Zeit zu Zeit beschenkt Kole die Kundin mit Komponenten, die ihrem Sportzimmer einen japanischen Charakter verleihen.
Abhärtung stellt einen Wert an sich da. Sie verändert das Bewegungsbild. Mit abgehärteten Unterarmen greift man kompetenter an als ohne. Blandine beginnt, zu begreifen. Beherzt schlägt sie zu. Schon ermächtigt sie eine schöne Hüftwelle. Siehe als Beispiel: Eingebetteter Medieninhalt