Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
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Auf der Buchmesse 2000 © Jamal Tuschick
Illuminierte Spirituosen © Jamal Tuschick
Vor langer Zeit bezeichnete Bodo Morshäuser Berlin als jene Stadt, in der die Dinge kurz vor ihrem Eintreffen schon einmal (wie) zur Probe stattfinden. Das beschreibt Kassel in den 1980er Jahren, soweit es um Karatefeminismus ging.
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“Kata is a library of self-protection techniques in Karate.” Adam Carter
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“Indulging in hate and revenge is like drinking saltwater, the thirst can only grow.” Kwai Chang Caine
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„Meine Generation war nicht darauf vorbereitet, alt zu werden.“ Wolf Wondratschek
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„Etwas frißt an mir/ Ich rauche zu viel/ Ich trinke zu viel/ Ich sterbe zu langsam.“ Heiner Müller
Evolutionäre Mechanik
In jeder Zeit entstehen wie aus dem Nichts gegriffene Bilder vom Untergang einer Zivilisation im Ansturm der Barbaren. Die Bilder behaupten ihre apokalyptische Dimension gegen die triviale Tatsache, dass sie ohne Ausnahme ein einziges Stereotyp auswringen. Stets zeigen sie die Anderen als Aggressive, während sie das gefährdete Selbst im Schaumbad der Hilflosigkeit verorten. Der italienische Philosoph Alessandro Baricco beobachtet „hervorragende Geister (wie sie) die Ankunft der (Invasor:innen* registrieren), indem sie den Horizont des Fernsehers fixieren“.
Zitate aus Alessandro Baricco, „Die Barbaren. Über die Mutation der Kultur“, aus dem Italienischen von Annette Kopetzki, Hoffmann und Campe, 223 Seiten, 20,-
Karate und Wein
Bis vor ein paar Jahrzehnten wurde Wein vor allem da getrunken, wo seine herkömmlichen Anbaugebiete liegen. Der Rest der Welt war ausgeschlossen. Heute trinken Leute rund um den Globus Weine, der vor ihren Haustüren gekeltert und mit Regio-Marketing aufgewertet werden. Diese steril-lokalisierende Universalisierung sah Walter Benjamin voraus.
Walt Disneys „Filme desavouieren … alle Erfahrung. Es lohnt sich in einer solchen Welt nicht, Erfahrungen zu haben.“
Amerikanische Soldaten, die als Besatzer in Italien auf den Geschmack von Wein gekommen und nach ihrer Rückkehr in Kalifornien Weinbauern geworden waren, veränderten das Antlitz der Welt. Sie widerlegten den Mythos von der einmaligen Großartigkeit romanischer Böden. Guten Grund gibt es wie Sand am Meer. Der kritische Punkt ist die Gärung. Die US-Winzer:innen* kompensier(t)en ein klimatisches Manko mit klimaanlagentechnisch-kontrollierter Gärung.
„Eine technologische Revolution beseitigt urplötzlich die Privilegien der Kaste, die die Vormachtstellung in der Kunst innehatte.“
Alle weiteren Beispiele bestätigen die evolutionäre Mechanik. Sie zeigen, dass das Andere das Neue ist: die Mutation. Barrico plaudert aus der Schule einer linkskatholischen Kindheit. Aus ideologischen Gründen kriegte er keine Fußballschuhe. Deshalb lief er in den alltäglichen Straßenschlachten mit Wanderstiefeln auf. Man setzte ihn konsequent als Verteidiger ein. In dieser Eigenschaft durfte er nicht über die Mittellinie expandieren. Das Spiel vor dem gegnerischen Tor erlebte er als Beobachter verwehter Szenen, die „in meinen Verteidigeraugen die sagenumwobene Aura eines Badeorts … besaßen: Frauen und Scampi“. Nie kam Barrico in den Genuss einer Torrauschumarmung. Nur der Torwart war noch einsamer.
„Der Torwart war immer ein bisschen verrückt, er kam allein zurecht.“
Soziale Atemnot
Dann änderte sich das Spiel, und Barrico fiel aus seiner Rolle. Ein neuer Verteidigertypus setzte den Heranwachsenden aufs Altenteil. Barrico lässt daran keinen Zweifel: er hätte umlernen können. Aber er wollte nicht. Lieber lebte er mit seinen verbrauchten Begriffen weiter im süßen Gloom der Nostalgie.
Ich sah ein halbes Dutzend musealer Friseurläden sich zehn, fünfzehn Jahre an einer städtischen Kante halten. Sehr verschieden geprägte Bürger:innen* erzählten ihre Geschichten zwischen den Türen und Angeln semi-prekärer Normalität. Die Schoten handelten stets von sozialer Atemnot. Kam ich das nächste Mal vorbei, fand ich wieder einen Laden geschlossen. Die unspektakuläre Bedarfsdeckung ernährte offensichtlich keine eingesessene Friseurin mehr; obwohl in der Gegend noch genug Leute lebten, die keinen Cent für Fassade und Aufputz (die Täuschungen des Designs) übrighatten. Gleichzeitig eröffneten in der Nähe der aufgegebenen Geschäfte migrantische Friseure Läden.
Auf welchen Markt spekulieren die Neuen? Was unterscheidet die Einsteiger:innen* von den Resignierten?
Plapperndes Nachbild
Was Genuss war, ist jetzt Gift für sie. Eine trockene Trinkerin sucht Zuflucht in anekdotischer Evidenz. Andriana Saskia Sobols Erinnerungen könnten einem Stück von Tschechow entnommen sein.
„Jenseits von Moskau waren Künstler eine Erfindung und Pferde real.“
In der Gegenwart des beschworenen Damals geben Leute einen Monatslohn für zwei Konzertkarten her. Ihre Nöte schmieden sie zu Komödien.
Sie leben in einer Proponenten-Gesellschaft und werden zur Selbstkritik angehalten. Reue kann befohlen werden. Der Alltag einer UdSSR-Untertanin verlangt gegenüber den administrativen Instanzen einen Vorsprung an dummer Schläue. In den Duellen mit ewigen Instanzen ist das zu wenig.
Am Präsens der Verknappung haftet die Patina von fünfzig Jahren. In der Handlungsgegenwart steht Andriana Saskia mit ihrer realsozialistischen Prägung und lauter Untergangserfahrungen auf verlorenem Posten. Die Welt hat sich an ihr vorbeigedreht, die Musikerin erscheint als plapperndes Nachbild.
Andriana Saskia spielt schon lange nicht mehr ihr Instrument. Der Mann ist tot, die Kinder sind weg. Es gibt nichts mehr außer dem japanischen Restaurant in Coles Flow-to-go-Mall als freundlichem Ort fast vor der Haustür, und dem fahlen Interesse einer Hundertzehnjährigen. Die Vulkanologin Antigone von Pechstein spricht gern mit Andriana Saskia.
Hochgespannt im Nachlassen der Kräfte
„Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein/ mit glatten Köpfen, die des Nachts gut schlafen./ Der Cassius dort hat einen hohlen Blick./ Er denkt zu viel: Die Leute sind gefährlich.“ Shakespeare
Antigones Enkel Cole von Pechstein bewegt sich nun auf einem melancholischen Grat zwischen Perfektion und Erosion.
Mich erinnert er an meine Englisch- und Sportlehrerin Bettine von Urff. Sie hielt sich so viel besser als die anderen Sportkanonen unter den Kolleg:innen* ihrer Generation, die entweder aufgegeben hatten oder ein in der Jugend erworbenes Kapital wie eine Leibrente verzehrten. Ausgezeichnet hatten sie sich in unpopulär gewordenen Sportarten wie Feldhockey, Faustball und Rhönrad. Natürlich gab es auch Turner:innen*, Tennisspieler:innen* und Ruderer:innen*. Einige einte das Selbstgeißelnde, Asketische, Diätische; andere das Barocke, der kompakte Auftritt, die Liebe zum Schweinsbraten, die Selbstgewissheit.
In Bettine von Urff paarte sich das stoische Temperament der Konditionsstarken mit der gleichgültigen Geselligkeit mancher Kegelschwestern und Parteigenossinnen. Sie war zäh und äußerte sich gern grundsätzlich:
Englisch können Sie, wenn Sie auf Englisch träumen.
Ab Vierzig haben Sie das Leben hinter sich und dürfen sich nur noch freuen.
Ronald Reagan ist Schauspieler. Der Mann mordet für einen Effekt.