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2022-10-10 07:22:29, Jamal

Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.   

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Am Strand von Ahrenshoop 2021 © Jamal Tuschick

Sozialdemokratische Klogenossenschaft

Zwölf Jahre nach Willy Brandts Thronbesteigung endete sang- und klanglos die große Zeit der Klogenossenschaft.

1981 wurde der Yorkshire Ripper enttarnt, Lew Kopelew ausgebürgert und die kommunistische Kaiserin Jiang Qing „bedingt“ zum Tode verurteilt. Solidarność sorgte für Schlagzeilen. Die hierzulande bis dahin größte Demonstration fand in Brokdorf statt, und Mosche Dajan gründete eine neue Partei, als Richys sozialdemokratische Gurkentruppe der Politik von jetzt auf gleich den Rücken zukehrte und sich wie ein Mann aufs Windsurfen verlegte. 

Holger Kühne ging als ewiger Hessenmeister in die Lokalgeschichte ein. Mein Vater figurierte als der große Vorsitzende. Der Spottname spielte auf den chinesischen Chef an. Natürlich hielt niemand den geborenen Sozialdemokraten Heinrich ‚Ricky‘ Teichmann für einen Mao der Kleingärten. Sowieso war nichts groß an ihm. Richy kniestete ihm Kleinen bis zur Besessenheit. Das Verrannte habe ich von ihm. Man hätte ihn aus besseren Gründen als ewigen Vorsitzenden verhohnepipeln können. Ein SPD-Ortsverein war seine Domäne.

Eines der bizarrsten Phänomene meiner Kindheit und frühen Jugend war die sozialdemokratische Klogenossenschaft.

Richy hatte seinen Lauf zu einer Zeit als die meisten Bürger:innen* in der Gegend meiner Kindheit, einem aus allen topografischen Nähten platzenden, bereits in der fränkischen Ära gerichtsfest bemerkten, in der landgräflich-hessischen Zeit als Stützpunkt fürstlicher Jagdgesellschaft genutzten, und in der Handlungsgegenwart von zugezogenen Habenichtsen überrannten Straßendorf, ihre politischen Überzeugungen der Intimsphäre zuordneten. Man unterhielt sich nachtretend über alles Mögliche, die Schulden und das Fremdgehen der anderen boten den reichsten Fundus, doch Wahlentscheidungen behielt man für sich. Es sei denn, man war Abgeordneter oder wenigstens Bürgermeister, oder eben so ein Richy (mit nichts an den Füßen), der sein politisches Herz auf der Zunge trug. 

Das Volk meines Vaters tagte erst im Gemeindehaus, dann in den Jugendräumen und schließlich im Bürgerhaus, einem gründerzeitlich-klotzigen Kasten mit einer Vergangenheit als Volksschule. Stets begannen die Sitzungen in dem umgewidmeten Klassenzimmer meiner Einschulung. In ferngesteuert wirkenden Prozessen tropften die durch die Bank männlichen Genossen auf den kilometerlangen Korridor, um sich da monoton an mysteriöser Kleingruppenbildung zu beteiligen. Die Wiedervereinigung fand auf dem Klo statt.

Ihren Wiederholungscharakter verlor die Posse 1981. Im Jahr der Wachablösungen in den Zentren des Kalten Krieges mutierte Rickys Ortsgruppe zum Surfverein. Während sich Ronald Reagan und Leonid Breschnew als neue Major Player im Duell USA versus UdSSR warmliefen, öffnete sich Richys frauenloser Kreis unterbelichteter Tapeziertischaufsteller, Plakateure und Flugblattverteiler. Papas Politpanoptikum gewann die Popularität einer koedukativen Gemeinschaft. Die Vereinsheimsauna wurde zum Herzstück. Das Politische fiel ab wie eine morsche Schale. Die Surfer:innen* fuhren ständig gemeinsam in den Surfurlaub, und zwar in immer größeren Autos. Das ist eine andere Geschichte.   

Burakumin

1981 erkundete ich den Tokioer Rotlichtdistrikt Kabukichō. Nach den Devisen des organisierten Verbrechens eingeschleuste Chinesinnen waren der letzte Schrei im Straßendschungel. Die Dienste der Sexarbeiter:innen* wurden auf Flugblättern illustrativ annonciert. Yakuza verkörperten eine unübersehbar schillernde Ordnungsmacht. Sie schlugen Pfauenräder. Sechzig Prozent ihrer „Söhne“ rekrutieren sich aus dem Elend der Burakumin - Unberührbaren. Ihr Straßenkarate ging auf Ōyama Masutatsu (1923 - 1994) zurück. Ōyama Masutatsu gehörte der koreanischen Minderheit an und hatte gewaltige Akzeptanzprobleme in einer offensiv rassistischen Gesellschaft. Zu den Rivalen der Yakuza zählten die Snakehead, eine chinesische Schlepper:innen*formation, deren Angehörige bis heute so unauffällig ihren Geschäften nachgehen, dass man sie nicht identifizieren kann. Sie geben keine Interviews, anders als die amerikanische Mafia, die sich in den Spiegeln von Hollywood gefällt. Bei dem Versuch einen echten Snakehead in die journalistische Mangel zu nehmen, riskierte ich Kopf und Kragen. Auch dazu an anderer Stelle mehr.

*

Immer wieder tat sich die Erde auf, um über lächerliche Kernschmelzen zu lästern. Was eine richtige Kernschmelze ist, das hatte noch kein Mensch gesehen. Immer gab es einen Iraner, der deutsche Tugenden rühmte, und einen Sven auf der Flucht vor Gläubiger:innen*. Den Boris im Alimente-Rückstand, ungefragt Besserung gelobend. Es gab falsche Fröhlichkeit und echten Neid; soziale Wucherungen, die Bildung von Randgewächsen und ein vehementes Aufkommen von Verfallserscheinungen. Kegel von Flakscheinwerfern unterhielten sich über den Leuten. Die Zeit hatte einen Sprung in der Schüssel, Genoss:innen* nahmen die Hitze im Sommer Einundachtzig zum Vorwand, um das Bekleidungsminimum zu unterschreiten. Angehörige der neuen Stämme warteten mit barocken Abweichungen auf. Ich erinnere an die Barfüßer, die sich weder waschen noch rasieren durften.

1991

Von Automaten geschluckte Karten, Cocktails in Kellerbars, Wehlheiden im August. Abstürze im neuen Weinerlich, das Wiedersehen nach Jahren. Ein ruhiger Abend am Küchentisch. Die späte Einkehr nach einem Besuch bei melancholisch gewordenen Freund:innen*. Die mondsüchtigen Viertelstunden nach dem Kino, all die Abkürzungen und Umwege. Die überbelichteten Mienen letzter Gäste in einer Bar, die angeblich auch in New York funktioniert hätte. Das Repertoire lebender Fossile, die den heiligen Aschenbecher und das galaktische Taschentuch in der Burggaststätte anbeteten. Ich erklärte Daniela den Hauptfriedhof. Da lagen bedeutende Leute genauso tot in der Erde wie andere. Ein Hospizverein hatte Tulpen gegen Hoffnungslosigkeit gepflanzt. Ein neuer Stamm tanzte in Formation. Die Tänzer:innen* bekannten sich zu einem Getränk ihrer Großväter. Sie huldigten dem Jägermeister im Sambaschritt. Sie beteten die grüne Flasche an.  

Jemand sagte: „Der hat den Groove kapiert.“

Jemand sagte: „Man muss Druck erzeugen und trotzdem nach hinten spielen.“

Jemand kannte jemanden, der genau wusste, wo der Kinderstuhl von Friedrich II. gestanden hatte. Ich geriet in einen erinnerten sonntäglichen Auflauf von Portugiesen oder Spaniern. Auf einer Rennbahn des Assoziativen verlief ich mich. Ein Bahnhofvorplatzkonvent im ewigen Mistwetter der Sechzigerjahre wuchs mit dem Kantinenbetrieb eines spanischen Kulturvereins zusammen. Ich gab Daniela meinen Tabak.   

Sie wusste: „Auf Türkisch heißt Tabak Tütün.“

An die Fallen der Differenz von Laut- und Schriftbild gewöhnt, begeisterte uns beide, dass man das Wort so schreibt wie es ausgesprochen wird. Daniela malte es auf einen Filz, zweifellos durchdrungen von dem Gefühl, dass ihr Leben gerade genau richtig war.

2011

Ich belausche ein Nebentischgespräch über angeschwemmte Leichen. An Urlaubsstränden aus dem Wasser gezogen. Namenlose einer Völkerwanderung, die es nicht geschafft haben, in europäischen Küchen und Kellern dem Wohlstand nah zu verelenden.

*

Ein halbes Jahr nach der Trennung erscheinen wir vielen noch als Paar. Nach Danielas Feierabend in der Vergabestelle und meinem Dienstschluss treffen wir uns vor dem schönsten Kasseler Kioskpavillon. Wir begrüßen und verabschieden uns wie ein Paar. Keine Außenstehende erkennt die Verzögerungen und Verschiebungen, die das Vollbild der Vertraulichkeit allmählich aus dem Rahmen nehmen. Wir verbringen unsere freien Abende gemeinsam, wir gehen nur nicht mehr gemeinsam nach Hause.
Wir vermeiden Streit. Wir sitzen fest in einer Förmlichkeitsfalle. Wir richten eine Denkmalschutzkommission ein, zur Bewahrung der schönen Momente. Manchmal geraten die Trennungsgründe außer Sicht. Dann geschehen seltsame Dinge.