Im Dschungel der Städte hat Karate seine große Zeit noch vor sich.
“Everything is a function of energy.” Huai Hsiang Wang
Irgendwann in den 1980er Jahren © Jamal Tuschick
Freiwillige Isolation ist eine japanische Spezialität. Die Abschließung Japans vollzog sich in einer Serie außenpolitischer Ausschlüsse. Seit den 1580er Jahren schränkte das Tokugawa-Shōgunat die Verkehrsfreiheit der als Südbarbaren geschmähten Portugies:innen* und Spanier:innen* ein. 1635 verloren alle Japaner:innen* ihre Reisefreiheit. Von 1639 bis 1853 blieb frau/man unter sich und behielt solange die mittelalterlichen Standards bei.
Anzu spürt die Selbstgenügsamkeit ihrer Gastgeber:innen* jeden Tag. Die aus Kassel gebürtige Karateka genießt in in Nagai Shihans alpin-verwunschenem Dōjō (am Fuß des Kumotori im Okuchichibu-Gebirge) das Ausländer:innen*-Menü, die Gaikokujin-Armenspeisung.
Anzu fühlt sich abgespeist.
Jede Nacht verzehrt sie sich nach ihrer Karatemutter Maeve von Pechstein, deren Großneffen Cole und der gemütlichen Karateschule am Lokalbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Sie rangiert da als Meisterschülerin und Mannequinqueen für die Sportlinie von Jeolpgo-Jeokhap Design turmhoch über dem Gros der Praktizierenden. In Kassel gehört Anzu (gemeinsam mit Lien, Park und Cole) zum innersten Kreis um Maeve, während sie als Nagai Shihans Trainingsgast in einer Außenseiter:innen*rolle an sich selbst (ver)zweifelt.
Anzu fehlt die Anerkennung. Sie entbehrt die freimütige Bewunderung interessierter Lai:innen* für ihre gestochen scharfen Techniken. Die japanischen Spezialist:innen um Nagai Shihan zollen sich rituell Respekt. Das höchste Niveau ist lediglich die geringste Voraussetzung für das Weitere.
In Japan hält sich die Karatefaszination in engen Grenzen. In den Jahrzehnten zwischen Adoleszenz und Rentenalter praktizieren wenige Japaner:innen* Karate. Nagai Shihan bewirtschaftet seinen Hotspot für eine verschworene Gemeinschaft. Als Hüter der Exklave und gastgebender General einer Loge, vereint Nagai Shihan in sich Abt und Daimyō. Männer wie Yanai Narihiro Sōshō und Omi Sama vergewissern sich in seiner Gegenwart ihrer Basis und den wichtigsten Bausteinen darüber. Siehe https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4251.
Wie ein Landschulheim am Wandertag besteigt das Dōjō den Kita Okusenjō im Chichibu-Tama-Kai-Nationalpark.
Die Separatist:innen* absolvieren einen Parcours der Schreine im Okuchichibu-Faltengebirgswald zwischen den Regionen Kantō- und Kōshin‘etsu. Sie schaukeln in einer Seilbahn des Verkehrsbetriebs Mitake Tozan Tetsudō, und besichtigen den zweitausend Jahre alten Mitsumine-Schrein. Es gibt Testicale soup - 精巣スープ unter freiem Himmel. Die Japanologie-Studentin Anzu weiß nicht, ob sie in ein japanisches Disneyland geraten ist.
Jeder markante Geländepunkt ist beschriftet und hat eine Legende. Eines Tages besucht die Gruppe den Musashi-Mitake-Schrein. Auf Tokios Hausberg treffen die Karateka Filipinos, die ihre Corporate Identity auf T-Shirts vor sich hertragen. Alle gehören zu einem Kali Kartell. Anzus Verehrer Akio hat noch nie von Kali gehört. Ohio-Jack grätscht mit einer Erklärung in das traute Verhältnis zwischen Anzu und Akio.
„It’s not a martial art, it’s just a way to kill people.”
„That’s pretty much the definition of a martial art”, erwidert Nagai Shihan indigniert. Woah, Anzu hat den Meister noch nie Englisch reden hören.
Aus Saam Chien wurde Sanchin
Anzus Reserve gegenüber dem hinterwäldlerischen Mystizismus nimmt zu. Für die Purist:innen* behält Gültigkeit, was ein chinesischer Mönch im 17. Jahrhundert am Vorabend seiner Erleuchtung unter einer Birke laut Überlieferung gemurmelt haben soll. Nachahmung erscheint ihnen erstrebenswerter als Originalität. Sie rücken vom Überkommenen auch dann nicht ab, wenn es keine Lösungen mehr bietet. In einer Tradition zu stehen, ist für sie das Höchste. Kritische Äußerungen sind das Letzte.
Bald mehr.