MenuMENU

zurück

2023-04-01 09:51:19, Jamal

The leopard has the solution in its blueprint. If you are not a leopard, you will not solve the problem. You can‘t pet anyone to victory.

1995 © Jamal Tuschick

„Alles hier besitzt eine filmische Qualität von Unwirklichkeit. Die Leute erzählen Witze.“

Sergej Gerassimow am Morgen des 24. Februars 2022. Der Krieg hat gerade begonnen. Der Autor beobachtet „das rote Glühen von Explosionen, die noch jenseits des Horizonts liegen“.

*

Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

Verträumtes Irrlicht

Aurora plagt der Gestank einer Menagerie, die L. unterhält. Tiere im Haushalt sind ihm unentbehrlich. Angeblich heben sie das Familienleben auf die Stufe der Gemütlichkeit. Possierlich, drollig, rollig, wollig ... das animalische Repertoire hilft dem Verständnis für das Menschliche auf die Sprünge. So verteidigt sich der Ritter gegen Vorwürfe seiner Frau, deren Empfindlichkeiten in dem Maß zunehmen, in dem ihre Gattenzuneigung abnimmt.

L. philosophiert über das Liebesleben eines Taubenpaares, das in einer palastartigen Voliere residiert: in komfortabler Unfreiheit.

Avancierte Unfreiheit

Erinnern Sie sich an Guinevere von Pechstein? In der gröbsten Betrachtung bildet die Nachbarin der Sacher-Masochs mit ihrem Mann, zwei Kindern und einer Schwägerin, die den Haushalt besorgt und sich um die Kinder kümmert (an einem doppelt verschlissenen Adelssaum) einen halbwegs durchschnittlichen Kreis. In den Pechsteins formuliert sich das verdammte Ende einer lange für ewig gegoltenen Generationenfolge von Ministerialen. Der erste Pechstein, der von sich reden machte, war noch unfrei. Aus der avancierten Leibknechtschaft entwickelte sich eine problematische Stellung. Die Ritterbürtigen verdarben mit einem Fuß in der populären Niedrigkeit. Mit dem anderen stolperten sie durch die feudale Welt. Viele verließen die Burgen ihrer Herkunft und ihres Aufstiegs und verschmolzen mit dem nächstbesten Patriziat, das selbst in einer Zwischenlage klemmte. Aus dem Reservoir der nobilitierten Städter:innen rekrutierten sich gleichermaßen die Schranzen des Absolutismus und die Matadore der bürgerlichen Emanzipation.

Schöne Gespenster

Werden in Jahrhunderten zwei gegensätzliche Erscheinungen in einem Profil verschmolzen, dann rinnt aus den Spaltungsrissen eine Melange, die ursuppig den Nährgrund für etwas Monströses, zumindest Biestiges bietet. Die Monster und Biester tarnen sich als schöne Gespenster und reizvolle Widergänger:innen.     

Somnambule Zielgenauigkeit und leises Entsetzen

Auf das beinah dörfliche Publikum von Bruck an der Mur, wo Aurora von 1873 - 1877 zu wohnen sich genötigt sieht, wirkt Guinevere in keiner Weise vorbildlich. Ihre Indolenz könnte sprichwörtlich werden. Mit somnambuler Zielgenauigkeit geht sie ihren Pflichten aus dem Weg. Sie vermeidet Ecken und Kanten eines derben Alltags und suggeriert Schwäche, wo andere auf persönliche Stärke Wert legen. Und doch vermutet die schamanisch-intuitive Aurora in Guinevere eine, bildlich gesprochen, erdgeschichtliche Zerstörungskraft. Faszination verwandelt sich in leises, von Erregung punktiertes Entsetzen, als die Unerreichbare plötzlich aufrückt.

Ich male Ihnen das gesellschaftliche Ereignis nicht aus, das es Aurora erlaubt, in einem weiße Atlaskleid aufzutreten. Benommen von einem ausufernden Unbehagen wegen des unsoliden, so überhaupt nicht ankerstarken Gatten, flüchtet sie allezeit in innerweltliche Refugien. Während die Vornehmen von Bruck sich die Ehre geben, zieht sich Aurora ins Antichambre zurück. Sie platziert sich in einem Fauteuil. Das schreibt sie so.

„Schon war ich im Begriff, in dem überhitzten Zimmer einzuschlummern, als mich ein brennend heißer Kuss auf meine Schulter aufschreckte.“

Aurora sieht sich um. Da ist bloß Guinevere.

Wow. Welche Kühnheit im klandestinen Vorfeld der Tristesse einer Provinzgala für Honoratior:innen, die, frei von Verdiensten und Vorzügen, bestenfalls ein ordentliches Erbe verzehren. Die Leute, die sich nebenan im Saal spreizen, haben am Wiener Hof nichts zu melden. Sie existieren im Schatten der kaiserlichen Sonne. Im Verhältnis zum Monarchen sind sie Bettler:innen. Vor Ort geben die Pomeranzen aber den Ton an.

Die pomadige Stimmung sucht sämtliche Sphären eines Schauplatzes irrer Szenen heim. Sie untermalt die Überschreitungspotenz von Guineveres Eskapismus.  

„Ich konnte nicht widerstehen.“

Guinevere erschöpft sich nicht in der Lakonie. Hymnisch vielmehr vergleicht sie Aurora mit Andersens Schneekönigin. „Ein meergrünes Mullkleid (lässt sie) wie eine schaumige Wolke“ von sich abgleiten. Der verführerische Entkleidungsvorgang löst in der Angeschmachteten ein Gefühlsgewitter aus. Guinevere wirft sich auf das Objekt ihrer Begierde mit heißer Hast.

Aurora erschreckt sich vor der Gier einer Person, die sonst nur als Entrückte und verträumtes Irrlicht von sich reden macht. Guinevere offenbart sich in ihrer wilden Zärtlichkeit. Nichts Bürgerliches berührt ihre Seele. Ihr Familienleben führt sie nur pro forma. Ihr Gatte und die Kinder kümmern sie nicht.

Jetzt kennt Aurora den Grund für Guineveres lunare Untüchtigkeit.

Es gibt kein richtiges Leben im Falschen, sagt Adorno. Die österreichische Gründerzeitgesellschaft bietet Guinevere keinen passenden Rahmen. Aurora schreibt:  

„Da näherten sich Schritte … Herren kamen herein, und der ... Spuk verflog. Während des Balles sah ich oft, wie die glühenden Augen aus ihrer dunklen Tiefe nach mir schauten und mich verfolgten.“