Radical Chic im Fin de siècle
„Alles an ihr war gedämpft, zurückgehalten: ein angstvolles Lauschen auf die Rätsel des Lebens. Ein mächtiges Gefühlsleben schien in dem zarten Körper zu wogen und ihn aufzureiben.“ Wanda von Sacher-Masoch
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Das Habsburger Bürgertum existiert im Spannungsfeld zwischen feudaler Restauration und bürgerlichem Aufbruch. Spielarten eines kontinentalen Viktorianismus konkurrieren mit dem alpinen Biedermeier-Puritanismus unter der Glocke des Königlich-Kaiserlichen Imperialismus. Der Monarch, das adlige Gefolge und die Bourgeoisie sind sich so weit einig. Soziale Ingenieur:innen basteln am psychologischen Rahmenprogramm für den Gründerzeitturbo. Sie montieren Sicherheitsgurte an die Sitzschalen für den Gesellschaftsexpress. Überall vernimmt man schon den Motorengalopp der Zukunft.
Die Freiheitsversprechen der Kunst funktionieren wie Druckventile. Die Psychoanalyse munitioniert bourgeoise Rebell:innen. Der Radical Chic gebietet es, sich zu exaltieren. Seine Herolde verehren den Schreibritter Leopold von Sacher-Masoch. Dessen Gattin, unsere Heldin Aurora, begrüßt die Groupies aller Geschlechter in ihrem Haus. L. braucht Bewunderung. Beifall schmeichelt dem Genie. Die literarische Produktion des Hausherrn ist die einzige Einnahmequelle. Alles, was den Ernährer in Gang hält, unterliegt dem Förderungsehrgeiz seiner Frau. Aurora lässt es zu, dass sich L. in Verehrer:innen verliebt und sich dabei sonst wohin versteigt. Er verspricht Fremden die Ehe mitunter. Er überschüttet die Subjekte seiner Inspiration, bis das Interesse schlagartig versiegt.
© Jamal Tuschick
Qualen genießen
1877 kehren die Sacher-Masochs nach Graz zurück. Aurora verbindet keine Sentimentalitäten mit den Schauplätzen einer kommoden Kindheit und prekären Jugend (als Tochter einer mittellos-Geschiedenen). L. kennt Graz seit seiner Studienzeit. Die Verhältnisse des Künstlers als junger Kosmopolit waren in der steierischen Landeshauptstadt schlankweg behaglich, aber nicht sorglos. Ein großer Name ohne Vermögen im Verein mit Gleichgültigkeit für die materielle Welt, einer Neigung zur Indiskretion und einem widerborstigen Beharren auf unpopuläre Standpunkte ergaben ein verwirrendes Muster.
Leopolds Existenz vollzieht sich vulkanisch wie an einer plattentektonischen Kontinentalgrenze. Koryphäen konsultieren den Schreibritter. Die Herausforderer der Epoche korrespondieren mit dem Phantasten. Politische Haudegen von Format duzen sich gemütlich mit L. Mitunter gastieren sie an seinem Küchentisch wie (hundert Jahre später) Adorno im Hause Unseld. Sie halten L. für einen Motor der bürgerlichen Emanzipation.
Der Hausherr entwischt ständig dem Ernst der Lage. Er ringt mit Matronen aus dem Volk, die von hochgestellten Persönlichkeiten nichts anderes erwarten als unbegreifliches Verhalten. Stundenlang diskutiert L. mit Aurora seine Obsessionen. Die Ehefrau fürchtet ehrlos zu werden, wenn sie sich Liebhaber nimmt, so wie L. es verlangt. Er übergeht ihre Befürchtungen. Er drängt.
Raffinierte Grausamkeit
L. gibt ein Inserat auf. Eine schöne junge Frau wünscht demnach einen „energischen Mann“ kennenzulernen.
„Als Antwort darauf kam ein Brief von einem Grafen Attems - welchem, weiß ich nicht, es gibt ihrer ja so viele in Graz. Ich musste ihm ein Rendezvous geben, und zwar in dem zu dem Pachthof, in dem wir wohnten, gehörigen Wald; denn mein Mann wollte uns dort versteckt beobachten, um die Qualen der Eifersucht zu empfinden. Ich fand den Grafen an der bezeichneten Stelle ...“
Seelische Insolvenz
Aurora trifft einen kleinen, wenig energisch wirkenden Patron; eine lächerliche Erscheinung mit „verwaschenem Gesicht und … pappiger Sprache“. Graf Depp stolpert über die eigenen Füße zum Schaden seiner Hose und seines Monokels.
„Ich hätte ihn am liebsten gleich wieder dahingeschickt, woher er gekommen.“
Den Freier überschüttet Aurora mit Spott. Sie bewegt sich auf einem Grat zwischen falscher Einfühlung und echter Unverschämtheit. Sie macht sich ein Fest daraus, die seelischen Insolvenz des Grafen zu entlarven. So ergibt sich eine Konversation zur hellen Freude des Voyeurs, wie er im Gebüsch lauscht. L. muss förmlich an sich halten, um seiner Frau und ihrer Finesse in seinem Versteck nicht zu applaudieren. Er lobt sich über den grünen Klee bei der anschließenden Manöverkritik. Sie dämpft seine Euphorie:
„Ja, was meinst du, wenn ich dir diesen angetrottelten Grafen zum Gebieter geben würde? Das wäre eine raffinierte Grausamkeit, die du dir gewiss nicht hast träumen lassen.“