In den 1990er Jahren © Jamal Tuschick
Klopfzeichen aus dem Jenseits
Der 1911 in Hagen als Sohn bettelarmer Nachkommen von Leibeigenen geborene, kaum alphabetisierte Elektriker Anton Steinbrecher schließt sich in den 1920er Jahren einer Wandervogelgruppe an. Im Tross eines apokalyptisch ausgerichteten Charismatikers gerät Anton auf den Monte Verità. Als Geliebter einer Lebensreformerin und Gesundtanzpionierin nimmt Anton Fühlung auf mit gymnastischer Kaffeesatzleserei, Heilgartenesoterik, Runenkryptologie, Wolfsangelsymbolismus, kosmologischen Spekulationen, astrologischem Aberwitz, dem Gerede von Weisen Frauen mit dem Zweiten Gesicht, und dem allerweitläufigsten Wald- und Waidmummenschanz.
1934 heiratet der vielseitig beschlagene Anton die Tochter eines Pforzheimer Goldschmieds; eines Bigamisten, wie sich noch herausstellen wird. Wegen der rasend beliebten Elisabeth, genannt Betty, zieht Anton in das Grenzland zwischen Baden und Württemberg, wo Bettys Familie von jeher ansässig ist. Nach einem zwölfjährigen Zwischenspiel im Modus der uniformierten Gleichschaltung startet Anton, inzwischen Vater von vier Töchtern, als Geschäftsmann durch. Er beginnt mit dem Verkauf von Luftballons auf Jahrmärkten und reüssiert mit einem Geschäft für Gummiwaren, das sich zu einem Fahrrad- und Leichtmotorhandel auswächst. Anton trifft eine Serie glücklicher Entscheidungen. Für seine Treffsicherheit sucht er eigenwillig-esoterische Begründungen. Anton beruft sich auf das Tibetische Totenbuch, die ägyptische Mythologie. Vorbildlich findet er Sven Hedin, Thor Heyerdahl, Peter Scholl-Latour, C. W. Ceram, Werner Höfer, Jacques-Yves Cousteau, Heinrich Harrer, Luis Trenker und den normannischen Kleiderschrank Curt Jürgens.
Der smarte Sonnenanbeter erscheint als Prototyp des Wirtschaftswunderdeutschen. Leidenschaftlich liebt Anton Pferde und die Reiterei. Daneben reizen ihn Waffen, Wassersport und die Jagd. In den 1950er Jahren organisiert er den Bau eines Flussbades in der Enz. Im Weiteren gefällt sich der Patriarch im Kreis seiner schließlich sieben vorzüglich schwimmenden Töchter. Erst 1975 kommt sein erster männlicher Nachkomme zur Welt - und zwar auf Hawaii. Seine in Antons spirituellen Fußstapfen versackende, weltweit Ashrams und Yoga-Retreats abklappernde Mutter Doris gibt ihrem Sohn den indischen Namen Navin - der Neue. 1979 kehrt Doris mit Navin in die Obhut ihrer Eltern zurück.
Betty schwimmt in einem Meer aus Verwandten. An jedem Familienast schwingen Gymnastinnen, pietistische Protestantinnen und Naturheilerinnen. Die Angehörigen initiieren Navin mit einem Mix aus bodenständigem Materialismus (alle leben im Eigentum; zur Miete wohnt man nicht; das ist anrüchig*) und einer jenseitigen Klopfzeichenkunde.
*Die Mieterinnen in den Häusern verwitweter Großtanten erscheinen prekär. Ihr soziale Schwindsucht setzt sie Verdächtigungen aus. Armut wird mit Delinquenz beinah gleichgesetzt.
Bei jeder Gelegenheit spricht Anton von Stamm und Sippe. Er begreift sich als Gründervater. Navins Mutter Doris firmierte einst als Seherin der Sippe. Ihr wurden hellsichtige Fingerspitzen nachgesagt. Im Handlungsjetzt ist davon nicht mehr die Rede.
Doris ist nur eine abgebrochene Sannyasin, eine, die sich im Ashram von Poona nicht zurechtfand; eine ausgeflippte Schwäbin, ohne jedes Alleinstellungsmerkmal. Es gibt jede Menge Kommunen, Töpferinnenwerkstätten, Sektendomizile und Drogentote im Enzkreis.