Tägliches Super-High
„Wenn du einen Moment lang stillsitzt und dich nach innen wendest, um darüber zu forschen, was und wo … (dein) Ich ist, wirst du dich wundern, dass du trotz intensiven Forschens nirgendwo ein Ich entdecken kannst.“ Osho
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Sehen Sie auch hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.
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„Gehen Sie nicht in sich, da ist nichts.“ Heiner Müller
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„Die Azteken opferten so (angestrengt) wie wir arbeiten.“ Georges Bataille
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„Antike Rituale zu verstehen, ist … ungefähr so, als wollte man als Taubstummer Klavierspielen lernen.“ Gabriel Zuchtriegel
In den 1980er Jahren © Jamal Tuschick
Spiritueller Hotspot
Am Ziel ihrer Träume angekommen wähnt sich die schwäbische Backpackerin Doris Steinbrecher, als sie 1984 auf Honolulu einen traumhaft gelegenen Luxusretreat entdeckt. Als Schwangerschaftsvertretung für eine Yogalehrerin dockt sie an. Bald darauf wird sie selbst schwanger - von einem greisen Guru, der die Geburt seines Sohnes nicht mehr erlebt. Navin wächst in einem Regime uferloser Weiblichkeit und in einer Riesenkrippe auf. Ein Dutzend lediger Mütter managt den spirituellen Hotspot. Zur Grundversorgung gehört das tägliche Super-High. Die Frauen feiern mit ihren Kindern Flow-Orgien.
Navin sieht einer rosigen Zukunft auf Hawaii entgegen. Doch dann dreht sich das Rad. Bei einer investigativen Stippvisite im Ashram von Poona lernt Doris 1988 den schwäbischen Aussteiger Raimund Freitag kennen. Beide reagieren verhalten auf Ashram-Chef Chandra Mohan Jain aka Acharya Rajneesh aka Bhagwan Shree Rajneesh (ab 1989 Osho). Knall auf Fall beschließt das frische Paar seine Rückkehr nach Deutschland.
Die Entscheidung verlangsamt und kristallisiert zugleich den sozialen Abstieg verspäteter Hippies, die sich in jeder Hinsicht zu vertun geneigt sind. Ihre Spiritualität ist ins Stocken geraten. Das Phänomen beschreiben Koryphäen als stored Qi. Entmutigte verlieren ihr Gleichgewicht, da das gestockte Qi in ihnen toxisch zerfällt.
Doris versucht sich auf Volkshochschulniveau zu stabilisieren. Das kann nicht gelingen. Sie ist (siehe Exerzitien-Exzess) zu hoch geflogen. Nun klebt Doris am Boden, ohne zu begreifen, dass Raimund sie leimt. Währenddessen erlebt Navin als Enkel des furiosen Selfmade-Millionärs und Herrenreiters von eigenen Gnaden Anton Steinbrecher einen Aufstieg. Das zweisprachige Kind avanciert zum designierten Nachfolger des Chefs.
Alle nennen Anton Chef.
Nach harten Dortmunder Volksschuljahren als Legastheniker kam Anton mit dreizehn in eine Elektrikerlehre. Der Geselle heuerte auf einem Frachtensegler an. Mit bloßen Händen stieg er in vereiste Wanten. Den Ärmelkanal überquerte er in einem Klepper-Faltboot. Er stellte ein paar Rekorde auf. Geld verdiente er, wo immer sich eine Gelegenheit bot, und so auch im Straßenbau. Auf dem Nordschwarzwälder Dobel errichtete der Westfale beinah im Alleingang einen Aussichtsturm. Er blieb in der Gegend.
Anton sah aus wie Johnny Weissmüller. Er spielte seine körperliche Hyperpräsenz herunter und trat mit ausgedachter Grandezza auf. Aus allem Aufgeschnappten lernte er etwas fürs Leben. Jede Geschichte hatte ihre Moral. Es kam darauf an, Fehler zu vermeiden.
Anton glaubte an sich. Er konnte andere begeistern. Schon mit fünfundzwanzig, noch lebte er sparsam zur Untermiete, besaß er ein Pferd und ein Motorrad. Er freite das in badischen Gazetten hymnisch besungene ‚Schwarzwaldmädchen‘ Elisabeth ‚Betty‘ Britsch. Die national erfolgreiche Schwimmerin und Feldhockeyspielerin war ein High Society-Schwarm. Motorisierte Verehrer standen Schlange. Honoratiorensöhne rissen sich um Betty, aber das Rennen machte ein ungebildeter Mann aus kleinen Verhältnissen.
Anton brauchte keinen bedeutenden Vater, um bedeutend zu sein. Schließlich entdeckte er den pferdeverrückten Unternehmer in sich.
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Mit siebenundachtzig steigt er nicht mehr in den Sattel. Auf seinem Hof, der Koppel, versorgt er sieben Trakehner, die er täglich an der Lounge bewegt. Sein Lieblingsenkel lebt im Schlaraffenland. Dazu bald mehr.