In den 1950er Jahren entstand in und an der Enz ein Fluss- und Lichtbad. Eine beinah unberührte Ursprünglichkeit säumt die Anlage im Spektrum zwischen Straßenranddschungel, Böschung und Luftwurzellabyrinth auch noch im ewigen Sommer Neunzehnhundertneunundneunzig.
Karibisch findet Navin Steinbrecher die Augenblicksstimmung. Der Vierzehnjährige verbirgt sich vor der Familienmeute im Unterholz. Doris, seine Mutter, eine ehemalige Leistungsschwimmerin, die es versäumte, den Leuten mit Erfolgen im Gedächtnis zu bleiben, krault jenseits der Flussbadgrenzen.
Die Duschen und Umkleiden befinden sich in einer karmesinroten Baracke. Wie ein Schildhäuschen steht die Pommesbude auf der Liegewiese. Die Kinderschlange davor verändert ständig ihre Gestalt.
Navins Stiefvater Raimund präsentiert seinen Vorturnerkörper im Lotussitz.
Doris und Raimund sind sich in Poona über den Weg gelaufen. Sie hätten sich auch bei einem Kraichgauer Weinfest kennenlernen können. Raimund stammt aus Knittlingen (der Geburtsstadt des Magiers Johann Georg Faust). Doris wurde im Kreiskrankenhaus Mühlacker geboren. Siebzehn Autofahrtminuten verstreichen zwischen den Städten, wenn man sich an die Straßenverkehrsordnung hält.
Frankfurt 2000 © Jamal Tuschick
Gepimptes Laissez-faire
Sogar Elisabeth ‚Betty‘ Steinbrecher nennt ihren Gatten Anton Chef. Im Kreis ihrer auf Handtüchern lagernden Nachkommen ruht Navins Oma Betty auf einer Campingliege. Die Mutter von sieben Töchter bringt das Kunststück fertig, das Gewese prahlender Boomer:innen gleichzeitig missbilligend und mit altruistischem Behagen zu betrachten.
Betty studiert eine verbotene Vertraulichkeit. Neben Raimund hockt Iris beinah abstandslos. Die Anziehungskraft plättet den Schicklichkeitssaum. Iris gehört zur Familie. Seit ihrer Kindheit verbringt sie mehr Zeit auf dem Steinbrecher-Reiterhof (der Koppel) als bei ihren Leuten. Iris liebt Pferde und die Großzügigkeit der Haushaltsführung ihrer Gastgeber:innen. Ihr Bikini exponiert ausladende Hüften und einen flachen Rumpf.
Betty mustert Raimunds von innerer Leere verödeten, blöd-stolzen Züge. Sie fürchtet und verachtet die infamen Ausflüchte, mit denen sich Raimund über die Runden rettet. Er hat sich ins gemachte Nest gesetzt.
Doris taucht wieder auf. Unbesorgt wringt sie ihr Haar vor Raimunds Füßen.
Zwei Nachmittage später - Schockwellen aus Staub und Asche
Religiöses Handeln war im antiken Alltag nichts besonders. Die Differenz zwischen profan und sakral „verschwamm“. Die Gebrauchskultur gedieh in Gemeinschaften, die vom Ritus bestimmt wurden. Die Verkehrsformen waren keineswegs so klassisch wie sie in den goethischen Verherrlichungsnarrativen erscheinen, sondern archaisch.
Reliquienmüll/Genehmigter Seitensprung
Die Griechen betrachteten ihre römischen Überwinder:innen mit kulturnationalistischem Hochmut. Die Usurpator:innen übernahmen die olympische Mythologie der Verlierer:innen und strichen sie altrömisch an. Das erklärt Veronika Yıldız, geborene Steinbrecher, halb verschluckt von einem aufblasbaren, träge vor sich hin dümpelnden Gummisarkophag. Die Yıldızs haben in ihrem Garten nicht nur das billige Blechbecken des gehobenen Durchschnitts, sondern ein richtiges Schwimmbad. Darin treiben Partymöbel, bevölkert von Veronikas Publikum.
Passive Verfaulung
Karl Marx spricht von einer passiven Verfaulung sozialer Schichten. Er beschreibt so das Lumpenproletariat, das eher in die Reaktion als zur Revolution drängt. Zugleich lassen sich Vorgänge des Alterns so ausschildern. Vitale Prozesse enden zu Lebzeiten. Der Körper gibt nach, er zeigt den Kadaver, der in ihm steckt, schon einmal vor.
Kompostierung setzt ein. Zum Rotwein die Redundanz. Veronika heißt nach einer Großtante, die nach Amerika heiratete und als Cremeschnitten-Vroni in die Annalen einging. Die Großnichte verschleißt große Worte für Geringes. Sie überhöht einen Wunsch nach gefahrloser Nähe zu dem kaum adoleszenten Navin, dessen überbordende Zukunftsfähigkeit ihr ab und zu den Atem verschlägt.
Veronika übertreibt ihre Weltläufigkeit. Seit einer Krise, die ihre ursprüngliche Form so verdampfen ließ wie der Kometenschlag zu Yucatán komplette Lebensformen, übt die promovierte Archäologin ihren Beruf nicht mehr aus. Veronika beschränkt sich darauf, vor Gästen zu dozieren.
Ihre Tochter Alissa, kurz Issa, ist ein Seitensprungprodukt, aber kein Ausrutscher. Ein Arrangement nach Art des diskreten Charmes der Bourgeoisie lieferte den passenden Rahmen. Veronika ging unter Aufsicht fremd, bis sie in anderen Umständen war. Der im weiteren Verlauf der Ereignisse bedeutungslose Erzeuger erfüllte ein paar Bedingungen, die zur Reibungslosigkeit des Weiteren beitrugen. Der unfruchtbare Kardiologe Tayfun Yıldız, eine Koryphäe mit internationalem Ruf, bedacht mit Dankesbriefen aus aller Welt, sieht seiner Stieftochter wunschgemäß nicht so unähnlich, dass ihre außereheliche Herkunft offensichtlich wäre. Der gebürtige Istanbuler und passionierte Oldtimer-Porschefahrer amtiert als Vater ohne Einschränkung.
Tayfun liebt es, Veronika und Issa auszuführen. Er nötigt meine Frauen zur Extravaganz. Er begeistert sich für den teuersten Schick. Der Augenblick an der Kasse, ist sein Augenblick.
Ein Mann von Welt beugt sich über den Verkaufstresen und mutet der Verkäuferin eine Vertraulichkeit zwischen peinlicher Berührung und Nervenkitzel zu.
Der Ehrgeiz, binnen Sekunden in ein halbes Dutzend Ausschnitte gelinst zu haben.
Tayfun fühlt sich beschenkt, wenn Veronika und Issa vor auswüchsigen, mit irrsinnigen Kreationsbezeichnungen annoncierten Eisbechern sitzen und er für eine vormalige Pfennigangelegenheit so viel auf den Tisch blättern muss wie früher für drei komplette Restaurantmahlzeiten. Er geht als Sieger durchs Ziel, sobald sich die Exzellenzmerkmale seiner Frau nicht allein mit ihrer parfümierten Zugänglichkeit, sondern außerdem mit echter Zufriedenheit paaren.
Schon jetzt ist Issa größer als Big Baba. Auch Veronika überragt den Gatten. Tayfun blickt zu Mutter und Tochter auf.
Als Studierende verdiente sich Veronika die Extras mit Mannequinjobs dazu. Seither kennt sie Männer, die sich Frauen vor die Füße werfen, um ein perspektivisches Vergnügen zu genießen. Tayfun betrachtet Veronikas Modellmaße als persönliche Auszeichnung.
Verzweifelten Stumpfsinn
Im ewigen Sommer Neunzehnhundertneunundneunzig entdeckt Navin die Liebe gemeinsam mit seiner Cousine Issa. Die Luft zwischen den beiden brennt seit einem Jahr. Das Begehren setzt Issa und Navin unter Zugzwang. Sie stimulieren und sedieren sich mit Sportüberdosen. Sie surfen auf Endocannabinoid- und Endorphin-Wellen.
Es gibt keine Versicherung gegen die Anziehungskraft. Die Unerfahrenen halten sich für informiert. Issas Beobachtungen untergraben ihre Erwartungen kaum. Ihre Mutter zeigt sich Issas Verehrern aufgeschlossen. Unverdrossen erkundet Veronika ihre Wirkung auf Navin. Sie rivalisiert mit ihrer Tochter. Auch Navin leidet unter der forcierten Ungezwungenheit seiner Mutter. Ihr ideologisch gepimptes Laissez-faire verurteilt den Sohn zur unvermeidlichen Zeugenschaft. Mit dem Sex der Naheliegenden assoziiert Navin verzweifelten Stumpfsinn. Dass in diesem Spiel kosmisches Feuer lodern soll, schließt er aus.
„Sobald ihr einem orgastischen Erleben näherkommt, setzen eure Gedanken aus, ihr werdet eher zu einer Energie, flüssiger, und pulsiert am ganzen Körper. Und das ist der Moment, in dem ihr hellwach eure Achtsamkeit auf alles richten solltet, was da vor sich geht - das Pulsieren; der Orgasmus, der immer näherkommt.“ Osho
Pulssynchronisation
Issa und Navin synchronisieren das physiologische Geschehen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, sobald sie nebeneinander herschwimmen oder -laufen. Sport wird bei den Steinbrechers immer noch großgeschrieben. Lehrgänge und Wettkämpfe sind reguläre Wochenendbeschäftigungen.
Gemeinsame Spaziergänge erfordern eine andere Athletik. Ständig stellt sich die Frage, wann und in welchem Umfang die nächste Berührung fällig ist. Warum bestimmte Punkte noch nicht erörtert wurden. Ob der neue Look die erhoffte Zustimmung findet.
Die ersten Haarrisse im Gefüge der Liebe deuten sich an. Dazu bald mehr.